Als Erfolg hat sich die Documenta in Kassel und Athen bislang nicht erwiesen: zu viel Politik, zu wenig Kunst, so der Vorwurf. Jüngster Beleg: Der Streit über die Performance Auschwitz on the Beach, die auf die Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern aufmerksam machen wollte.
Dabei gibt es Höhepunkte. Am Freitag ist abseits großer Öffentlichkeit und bedeutender Feuilletons ein Scoop gelungen. Ein Kunstwerk, ein eminent politisches dazu, hat den Wechsel vom Museum in die Politik geschafft. Es ist da angekommen, wo es intervenieren wollte.
Am 25. August tagte in Wiesbaden der hessische NSU-Untersuchungsausschuss. Geladen war, zum dritten Mal, der Verfassungsschützer Andreas Temme, die fragwürdigste Figur in der an Fragwürdigkeiten nicht armen Geschichte der rechtsterroristischen NSU-Verbrechen. Temme, bei dem sich neben anderen Nazi-Memorabilien handschriftliche Abschriften von Mein Kampf fanden, war am 6. April 2006 zu der Zeit in einem Internetcafé in Kassel, als dessen Besitzer Halit Yozgat das neunte Opfer der Česká-Mordserie wurde.
Doch Temme bestreitet seine Anwesenheit. Dass er sich nach dem Mord nicht als Zeuge gemeldet hat, erklärte er auch damit, nicht sicher gewesen zu sein, ob er am Tag des Mordes oder dem davor im Café gewesen wäre – den Chat, den er dort führte, löschte er nach ein paar Tagen aber, ohne auf Datum und Uhrzeit zu schauen.
So sind die Erklärungen eines der – so seine Vorgesetzten – „besten“ Verfassungsschutzbeamten Hessens. Wenn Temme überhaupt etwas sagt und nicht auf die scheinbar roboterhafte Leere im Kopf verweist, die bei gewöhnlichen Menschen Erinnerung heißt.
Deshalb setzte die SPD-Fraktion auf Unterstützung durch Kunst und zeigte Ausschnitte aus der Videoarbeit 77sqm_9:26min von Forensic Architecture, die gerade auf der Documenta zu sehen ist. Eine Rekonstruktion der letzten halbe Stunde im Leben Halit Yozgats, für die Abläufe durch frei verfügbares Wissen grafisch visualisiert und räumlich nachgestellt wurden.
Orientiert wurde sich auch an einem geleakten Polizeivideo, in dem Temme seine Version darstellt. Was den noch immer in Landesdiensten stehenden Temme merklich angefasst nach „Urheberrechten“ für ihn als „Hauptdarsteller“ fragen ließ. Die Rekonstruktion macht erdrückend deutlich, dass Temme die Schüsse hätte hören, das Abfeuern der Tatwaffe riechen und beim Bezahlen den hinter der Kasse im Sterben liegenden Yozgat hätte sehen müssen. Anders als im Hamlet, wo die Mausefalle, ein Stück im Stück, den Mord am Vater aufzuklären hilft, zeitigte der Einsatz der Arbeit von Forensic Architecture keine unmittelbare Wirkung. Es war aber zu spüren, was Kunst vermag, wenn das Video Temme jene Perspektive plausibilisert, die er bestreitet: die auf den toten Halit Yozgat.
Was am Freitag auch unterging: Am Ende seiner Befragung gab der auch geladene Polizist Joachim Börger, der im Fall Yozgat ermittelte, zu verstehen, dass die Staatsanwaltschaft die von Temme geführten V-Leute wohl mit dem Ziel befragen wollte, ein Alibi für den eigenen Mann zu kriegen und ihn so aus dem „Beschuldigtenbereich raus“ zu bekommen.
Das wurde verhindert – durch einen Sperrvermerk des damaligen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU). Vielleicht könnten Künstler bald einmal das Behördenversagen selbst noch beim Vertuschen anschaulich machen.
Kommentare 16
Vielen vielen Dank für den Beitrag. Schamlose Lügen säumen diesen Fall, von vorne bis hinten. Wenn in Deutschland Staatsanwäte weisungsgebunden sind, können auch Akten einfach geschreddert werden, scheinbar so ganz ohne Konsequenzen..... oder wie soll man diese ganze "Pannenserie" sonst erklären?
Danke für Ihren Artikel. Da bleibt mir nur zu hoffen, daß die Anwälte der Opferfamilien einen langen Atem haben und RichterInnen finden, die sich nicht vor einen Karren spannen lassen.Ich habe dennoch etwas Hoffnung.
So ist’s recht: Die Staatsanwaltschaft befragt Zeugen gezielt mit der Absicht, für einen Mit-Tatverdächtigen ein Alibi zu zimmern.
Noch Fragen?
Sieben NSU-Zeugen sind tot - Zeugin sah "blutverschmierten ...
www.epochtimes.de/.../sieben-nsu-zeugen-sind-tot-zeugin-sah-blutverschmierten-oste...
16.02.2017 - Nun wurde bekannt, dass eine weitere wichtige NSU-Zeugin ... Lieselotte Walz ist eine von mindestens sieben toten NSU-Zeugen die ...
"Lerne schweigen, ohne zu platzen" Uwe Steimle
.....und/aber:"WEHE dem, DER.....!!!"....gar gesetzlich gezwungen!.....der "Kragen platzt"!.....und es wird "offen-sichtlich" wo(rin) Wir längst WIRKLICH "leben"!
Ich kann Sie als OSSI etwas "beruhigen" - der Mielke war auch so, und dann war alles ganz schnell vorbei!
Diese ideologische Arroganz und Überheblichkeit gibt es leider in Diktaturen und Demokratien!
Staatlich betreutes Morden.
Man konnte den Börger so verstehen, muss dem aber auch noch mal nachgehen, weil es bei der der Ermittlung auch um Alibis (er sagte eben komischerweise da: Alibi, Einzahl) ging - es wurde, wie andere Zeugen vorher berichtet ja tatsächlich untersucht, ob Temme der Täter gewesen sein könnte, also der ganzen Ceska-Mordserie gewesen sein könnte. Da gab es dann auch Daten, bei denen er es nicht in Frage kam. Und ein bisschen offen wäre auch, was ein Alibi in Kassel gebracht hätte - denn da ist ja klar, dass er im Café war bis auf die 35 Sekunden, die die Arbeit von Forensic Architecture so anschaulich herausstellt, in denen - theoretisch - er hätte rausgehen können, ohne Halit Yozgat zu sehen, der dann aber fix wieder in den Laden hätte zurückkehren müssen (wo ja vier Kunden waren, warum sollte er rausgegangen sein) und die Mörder nach ihm. Eine theoretisch mögliche Choreografie der Bewegungen, die im Theater inszeniert hätte werden können, aber in echt sehr zufällig gewesen wäre. Und dann ist der entscheidende Move der Sperrvermerk von Bouffier, dessen Begründung die Aufklärungsversuche in der ganzen Sache dominiert: Quellenschutz geht vor. Auch vor Ermittlungen in Mordsachen. Dabei zeigt ja gerade der NSU-Komplex die Absurdität der Verfassungsschutzarbeit: Wozu noch Quellen schützen, wenn die mit ihren Erkenntnissen gerade nicht helfen, den Tod von dann neun Menschen zu verhindern. Dann müsste man eigentlich zu dem Schluss kommen, dass diese Form der Arbeit mit Quellen offenbar nichts bringt - und sie folglich auch nicht schützen (mal abgesehen davon, dass eine Befragung auch denkbar gewesen wäre, ohne dass die gleich auffliegen). Aber die Aufklärung der Verfassungsschutzarbeit wird ja nicht gemacht, und dann entstehen offene Fragen und Leute zitieren Uwe Steimle. Das ist arg.
Gut getroffen. Doch was war das Ziel? Begrenzung des Bevölkerungswachstums wird es nicht sein. Angstmache? Wem, den Ausländern, den Deutschen?? Ich glaube es war das Phänomen des 'brandstiftenden Feuerwehrmannes', bzw. Des 'mordenden Krankenpflegers' als inszenierten Retter. BVS und LVS brauchen dringend eine renovierung... inkl. der inventarisierten.
Gute Frage. Was auf jeden Fall ein Problem der ganzen Geschichte ist: der strukturelle Rassismus in allen Bereichen. Dass solche Morde quasi in Kauf genommen werden und hinter dem Quellenschutz rangieren, wenn dieses V-Mann-System nur behauptet, zu wissen, was die beobachteten Nazis machen - so was wie Mord sollte durch diese Beobachtung doch gerade verhindert werden. Das mit dem Rassismus zeigt sich aber auch daran, dass damals keine Journalistin, also keiner von uns, auf die Idee gekommen ist, mal Polizeiarbeit kritisch zu hinterfragen, statt von "Döner"-Morden zu reden, oder mit den Hinterbliebenen zu sprechen (die ja die Botschaft verstanden hatten und der Polizei sagte, sie soll bei den Nazis suchen). Bei der Documenta in Kassel ist auch das Video von der Demonstration nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel zu sehen ("kein 9. Opfer"), aber die ist medial gar nicht wahrgenommen wurden. Dabei hätte man da viel erfahren können. Immerhin, da sind die guten Seiten der Aufklärung seither, gibt es heute so was wie das NSU-Tribunal, das dieses Wissen zusammenträgt, formuliert. (Wenn auch mit weniger Screentime als die Auftritte der Angeklagten in München.)
...."und dann war alles ganz schnell vorbei!"
Ja, aber immer nur wieder traurig, die Opfer und das Leid bis "da-hin"!
Wenn dieser Prozess mit seinen Begleiterscheinungen:
- Verwicklungen des Geheimdienstes,
- mehrere Zeugen, die eines unnatürlichen Todes starben, teils kurz vor ihrer Vernehmung,
- Aktenvernichtung in großem Umfang,
.....
in Russland stattfinden würde, dann wären auch unsere Leitmedien voll von kritischer Berichterstattung. Der Staatschef Putin würde persönlich verantwortlich gemacht für die Zustände.
Bei uns in Deutschland geht man in der Angelegenheit aber zur Tagesordnung über. Und Merkel wird in der Sache nicht mal am Rande erwähnt. Sie hat mit den Zuständen in unserem Land, in unseren Geheimdiensten und unserer Justiz offenbar rein gar nichts zu tun. Als "Mutti" passt sie in erster Linie auf, dass niemand etwas böses sagt. Dafür wird sie dann auch noch gewählt.
Währenddessen ist unser Geheimdienst verstrickt in einen Sumpf von rechtsradikalem Terrorismus und die Justiz versucht dies nach Kräften zu vertuschen.
Da würde ich Ihnen zum Teil doch widersprechen: Richtig ist, dass der Skandal am großen Ganzen aus der deutschen Binnensicht nicht so perspektiviert wird, wie das mit Blick auf andere Länder geschähe - dass man "Menschenrechtsverletzungen" anderswo schneller diagnostiziert, als so einen Begriff auf den Umgang etwa mit den Hinterbliebenen hierzulande zu applizieren, was der Leiter von Forensic Architecture in diesem Feature zu bedenken gibt (http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/kolumnen-sendungen/generator/sie-klagen-an-das-nsu-tribunal-am-koelner-schauspielhaus-102.html) - das ist sicherlich richtig. Es ist aber auch so - und das zählt auf den Fall zu den positiven Seiten der Geschichte -, dass die Berichterstattung doch sehr ausführlich und genau ist, dass sich mehrere Medien es leisten, den Prozess zum Beispiel komplett abzubilden (die Pressetribüne ist da konstant voller als die Zuschauerseite); dass Medien selbst auch Sachen rausfinden, Dirk Laabs, um nur einen zu nennen, der das dann in Springers Welt veröffentlicht; dass es unglaublich viel zivilgesellschaftliche Arbeit an dem Thema gibt - von den diversen NSU-Watch-Gruppen (die man finanziell bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit auch unterstützen kann - (https://www.nsu-watch.info/nsu-watch/spenden/) bis zum NSU-Tribunal von Köln.
Das Problem ist vielleicht eher, dass in der breiteren Öffentlichkeit das Interesse an dem Thema zurückgegangen ist; das hat einerseits auch zu tun damit, dass es im Prozess und in den Ausschüssen unglaublich kleinteilig wird (aber prozedual anders nicht sein kann), und natürlich auch dass gewisse Bereiche ausgeklammert bleiben, die sich dann mit Verschwörungstheorien, Mutmaßungen und Frust füllen lassen.
@Matthias Dell
Zunächst mal: Ihren Artikel finde ich sehr gut, vielen Dank dafür. Sie haben auch Recht, es finden sich gelegentlich auch gute kritische Komentare zu diesem Prozess selbst in einigen überregionalen "Leitmedien".
Dennoch: Ein solcher Prozess z.B. in Russland würde in unseren "Leitmedien" weit stärker skandalisiert. Auch wäre man schnell mit Vermutungen dabei, dass der Geheimdienst in die Anschläge verwickelt sein könnte. Unsere "Leitmedien" halten so etwas aber hierzulande für ausgeschlossen. Die Vernichtung von Akten und das Auflaufen lassen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse legen aber genau diesen Verdacht nahe. Wenn in diese Richtung aber nicht auch ermittelt wird, dann wird so etwas freilich immer Vermutung bleiben. Die Festlegung der Bundesanwaltschaft auf die zwei Toten, Mundlos und Böhnhardt, als alleinige Täter, trotz der Zeugenaussagen im Falle der ermordeten Polizistin Kiesewetter, lässt jedenfalls misstrauisch werden.
Die enge Verquickung von Verfassungsschutz und Rechtsradikalismus wurde ja schon spätestens offenbar beim ersten misslungenen Versuch die NPD zu verbieten, als klar wurde, dass nicht wenige der Führungspersonen der NPD V-Leute waren. Nun geht es sogar um terroristische Morde. Wenn hier die Justiz nicht lückenlos auch das Umfeld der Morde aufklärt und der Verfassungsschutz mauert und die Aufklärung verhindert, so zeigt dies, dass in unserem Staat etwas massiv falsch läuft.
Bei allem, wo Sie Recht haben - ich finde, der Hinweis auf Russland (so sehr die Wahrnehmung der anderen sich stark unterscheidet von der Binnensicht, da bin ich völlig d'accord) nicht hilfreich, vor allem weil er in meinen Augen auch nicht produktiv ist - wenn man das feststellt, dann ist damit nichts gewonnen für die Aufklärung der blinden Flecken hier. Und in der Detailtiefe, wie hier über den Prozess und zum Teil auch die Ausschussarbeit berichtet wird, würde nie im Leben über russische oder andere Fälle berichtet werden, da würde man sich mit einfacheren Beschreibungen zufrieden geben.
Der Vorteil dieser Detailtiefe ist aber, das damit sehr viel Wissen zugänglich gemacht wird, das merkt man in München auch an den Pausengesprächen - es gibt da so viele Leute, die sehr genau Bescheid wissen, wie man das vor dem NSU-Komplex im Leben nicht hatte. Das ist auf jeden Fall positiv (und zeigt sich etwa auch daran, dass jetzt langsam, breiter die Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik überhaupt in den Blick gerät - fragen Sie mal gebildete, informierte Leute, wann der Oktoberfest-Anschlag oder wer Gundolf Köhler war).
Es stimmt sicherlich, dass es in Medien insitutionelle Blindheiten gibt, dass man den Verfassungschutz, auch im Wissen, was da alles schief gelaufen ist, immer noch zu wenig hinterfragt, wenn er heute Sachen vermeldet. Oder dass die Setzung der Bundesanwaltschaft von bürgerlichen Medien kaum/nicht kritisiert wird, die ja den Prozess so eingeengt hat, wie wir ihn jetzt erleben - auf das Trio bezogen, uninteressiert an Hintergründen (auch wenn es juristische Gründe gibt, weil dieses Mammut-Ding überhaupt schwer zu kontrollieren ist und ich aus richterlicher Sicht verstehen kann, dass die Hauptsorge ist, es so durchzuführen, dass es hinterher juristisch nicht angreifbar ist).
Es wäre auf jeden Fall wünschenswert, wenn es mehr journalistische Energie gäbe (aber das sage ich dann ja auch zu mir selbst), die blinden Flecke zu bearbeiten, die Frustrationen, die darüber ja auch im Bundestags-UA artikuliert wurde (den Ausschüssen fehlt eben auch die Handhabe, die Leute mit Lügen nicht durchkommen zu lassen; das aber immerhin haben sie von CDU bis Linkspartei deutlich markiert), umzuwandeln in Druck auf die Behörden, die Politik, wie sie Bouffier in Hessen repräsentiert.
Aber es gibt eben auch hoffnungsvolle Entwicklungen, Leute wie den genannten Laabs (von dem es mehrere bräuchte, die nichts anderes machen, klar), oder die FR, die in Hessen eine sehr umsichtige Berichterstattung zum Ausschuss (und dem ganzen Komplex) macht. Nicht zu vergessen die vielen Anwälte der Nebenklage, die die Probleme auch medial beim Namen nennen (wenn auch nicht auf der ersten Seite der Bild-Zeitung). Deshalb fand ich die Vorführung des Videos in Wiesbaden ja so bemerkenswert, auch wenn das wie ein Detail wirkt, das im Moment auch nicht gleich was gebracht hat - als Zeichen dafür, dass die Leute, die sich in der Aufklärung bemühen (gerade in Kassel gibt das viel bürgerschaftliches Engagement), eben mit solchen anderen, künstlerischen, aktionistischen Formen Aufmerksamkeit herzustellen zu versuchen.
Auch wäre man schnell mit Vermutungen dabei, dass der Geheimdienst in die Anschläge verwickelt sein könnte. Unsere "Leitmedien" halten so etwas aber hierzulande für ausgeschlossen.
Warum denn? Was wäre das Motiv, gesetzt den Fall, für Geheimdienste Ottonormalos umzubringen?