Wir müssen abwarten und beobachten

Tatort Der Mann, den wir einmal als Bartleby Eisner erinnern werden: Die Wiener Folge "Unvergessen" qualifiziert sich fürs Wembley der Sonntagabendkrimisaison mit Humor

In der Woche des Champions League-Finales haut der Tatort noch mal einen raus. Wo in dieser – wenn auch für Resümees noch Zeit ist – wohl eher durchwachsenen Saison der Hinrichs- aka Gisbert-Tatort aus München früh als Meister feststand, schickt Wien jetzt eine Art BVB ins Rennen, der zumindest in der Lage wäre, in Wembley mitzuhalten. Sascha Biglers (Buch und Regie) Folge Unvergessen zeigt sich trotz des breiig tönenden, das Ganze durchaus treffenden Titels in hochstehender Form.

Und das auf dem schwierigen Feld der Kommissarsverletzung, die ja meistens auf den Kopf zielt, damit lauter Wahrnehmungsschwierigkeiten produziert werden: zuletzt bei Marvellous Meuffels im Gesundheitsunwesensmärchen, davor beim Ivo; von Murott'n ganz abgesehen, der doch dauerhaft einen Sprung in der Schüssel hat. Und wurde nicht, für die Älteren unter uns, die fast völlige Abwesenheit Kressins im Sam-Fuller-Schocker Tote Taube in der Beethovenstraße "dereinst" (Th. Mann) auch erklärt oder zumindest angedeutet durch einen Krankenhausaufenthalt?

Wie auch immer: das Surreale, es kann einem auf die Ketten gehen, obwohl es doch häufig interessante Effekte herstellt. Schön bei Unvergessen ist, dass Bigler die Gesichte des Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) nicht so sehr durch das Gedräue der Filter und Schärfen aus der Bedienungsanleitung zum Videoaufmotzen erzählt, sondern sie einfach in den glattgestrichenen Realismus packt: wie da am Ende etwa der Berg gesprengt wird im Steinbruch oder wie, noch schöner, in der Büroszene am Anfang der Spurensicherer Slavik (Stefan Puntigam) die Bibi (Adele Neuhauser) zu Demonstrationszwecken erschießt in den Augen des Patienten. Diese Szene ist hübsch choreografiert, sie hat Tempo und Rhythmus, wenn der Eisner sich aufs Stichwort ("Du bist nicht fit") mal kurz übergibt.

Retrograde Amnesie

Manche werden "Qnst" (Thomas Kapielski) zu Unvergessen sagen, weil der Film sich als seine eigene Wiederholung ausgibt: Eisner hat "retrograde Amnesie", die praktischste Krankheit von allen (für den Krimi sowieso), weil alles funktioniert (Eisner also nicht im Bett bleiben muss) und die Erinnerung betäubt ist allein das traumatische Erlebnis betreffend. Das klingt tatsächlich reizend für Traumatisierte jeglicher Couleur, wo es doch immer welche gibt, die antifreudianisch auf Verdrängung setzen.

Für den Krimi macht es doppelte Arbeit: Eisner muss noch mal rausfinden, was er schon rausgefunden hatte. Ein unnötig scheinender dramaturgischer Trick, der durch Behauptung aber doch familiar macht mit dieser Dorfgesellschaft in Kärnten. Vielleicht sollte man alte Freunde, die der Tatort den Kommissarinnen gern für eine Folge aus dem Ärmel zaubert, nur über diese retrograde Amnesie erzählen. Die kriegt das hin, den Eindruck, dass man sich kennt, und wenn's nur der Spezi (Gerhard Liebmann) ist, der sich erinnern will.

Der wohnt in einem unfertigen Haus, das so zu zeigen etwas hermacht. Wie Bigler en général schön nebenher erzählt: die Grissemann-und-Stermann-Dartscheibe auf dem Polizeirevier, diese konsequente motivische Einführung des radfahrenden Schotter-Tycoons Wiegele (Juergen Maurer), der immer so herrlich übertrieben brüllt bis an den Rand der Auspegelung, der Dorfpolizist, der sich die Zeit am Rechner mit Erotikseiten vertreibt – solch beiläufigen Humor findet man in den deutschen Folgen der Tatort-Reihe nicht so häufig.

Facing Waffen-SS

Auch das Unvergessen irgendwann einfach das Reportagematerial von Eisners Post-Jugend-Liebe Maja Jancic-Herzog (Bojana Golenac) zeigt, als sei der Tatort das Fernsehprogramm selbst, in dem noch was anderes laufen kann, hat etwas, weil es den Zuschauer mit dem Ernst der Geschichte konfrontiert. Irritierend ist dabei lediglich, dass die Aufnahmen mit der das real Massaker überlebt habenden Jozefa (Stefka Drolc), die doch wie Fernsehdokumentation aussehen sollen, so spielfilmvage und emotionengeil um die Tränen der Jozefa kreisen.

Das wäre noch mal ein Bachelor-Thema für die jungen Leute von der Fernsehfilmwissenschaft – wieso der Spielfilm weiche Knie kriegt und so unangenehm die Leute bedrängt, wenn er in sich selbst durchformatierte Doku spielen will? Und wie diese digitalen Fehler in dem Material zustande kommen, hätte man auch gern gewusst, aber um solche Feinheiten kümmern sich die Bürgerrechte-Grünen von @tatortwatch natürlich nicht. Das Gepixel soll wohl andeuten, das Material der Maja habe was durchgemacht im Zuge des Mordes und der Hüttenverwüstung, was dann im Digitalen lustigerweise durch die Entsprechung zu Kratzern oder Materialinsuffizienzen on Zelluloid markiert wird. Vielleicht ist es auch so, looks aber eher like die sentimentale Seite von technologischer Entwicklung.

Für den Krimi ist der Gang zurück in die Geschichte die Rückkehr zu seinen Wurzeln, schon deshalb ist Unvergessen der Tatort der Stunde, weil man hier nämlich verstehen kann, warum Horst "Waffen-SS" Tappert Derrick werden musste – die ganze Aufklärung, die jeden Sonntagabend erfolgreich in der ARD betrieben wird, dient doch, mal nicht antifreudianisch gedacht, der Erhellung des biggest crime, dessen Deutschland und angrenzende erste Opfer sich schuldig gemacht haben.

Dass am Ende der Überraschung wegen ein motivisch passendes (Alzheimerforschung) Verbrechen am Tod der Maja Schuld ist, schwächt den Tatort etwas – wer weiß, was er tut, muss keine Kaninchen aus dem Hut zaubern. Man ertappt sich kurz bei der Überlegung, warum dieser Film nicht aufgehoben wurde für die ARD-Themenwoche Gesundheit: Alzheimer und Demenz – Vergessen ist so leicht, findet eine Erklärung aber darin, dass die verdrängten Verbrechen aus der Nazizeit in so einem Kontext wohl kaum thematisiert würden. Da hätte das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das doch immer allen gefallen will, seine Grenze.

Immerhin, der Eisner hat am Schluss die Nase auch voll und entzieht sich (wie damals bei den Sveti-Tigern) der versuchten Erpressung durch Nichtmitmachen. Bartleby Eisner.

Ein Hinweis, mit dem man sich bei jedem Gegenüber beliebt macht: "Ihr Ton gefallt mir ned"

Eine Frage von epischem Format: "Nach hause, was soll das sein?"

Eine Vergangenheit, mit der man auf Stehempfängen beeindrucken kann: "Ich hab' an einem Mord im nigerianischen Migrantenmilieu gearbeitet"

Upcoming Live-Auftritte vom Autor von hier: Mittwoch, 29. Mai, 20 Uhr, Sonntagabendkrimi-Vortrag mit Ausschnitten (das Original) im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Etwas größere und kleinere Fische” in der Nachbarschaftsgalerie der KungerKiezInitiative e.V., Kool-Karl-Kunger-Str. 15, 12435 Berlin Alt-Treptow

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