Jeder an seinem Platz

Rezension Theresa Hannigs Roman "Die Optimierer" fühlt sich an wie "Der Prozess" in der Computergesellschaft

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Bei Theresa Hannig hat der überwachende Fürsorgestaat seine Augen überall
Bei Theresa Hannig hat der überwachende Fürsorgestaat seine Augen überall

Bild: 442737/Pixabay (CC0 Creative Commons)

In diesem Jahr stieß ich auf gleich zwei Romane deutschsprachiger Autoren, die eine durchoptimierte Gesellschaft beschreiben. Leif Randts „Planet Magnon“ (ursprünglich 2015 erschienen) präsentierte eine Gesellschaft, die dank scheinbar perfekter Computerkontrolle von allen Konflikten befreit ist. Unterschiedliche Lebensentwürfe sind in dieser Welt nur in Form entsprechender Kollektive möglich, ein austariertes System für diejenigen, die es nicht in Frage stellen. Freilich braucht es in solchen Romanen trotzdem einen Konflikt, und der wird durch das „Kollektiv der gebrochenen Herzen“ eingebracht, das sich mit dem System nicht anfreunden mag. Randts Roman spielt auf verschiedenen Planeten eines fremden Sonnensystems, ist aber eher Parabel als „harte“ Science Fiction. Im Vordergrund stehen politische Modelle und deren Auswirkungen auf Individuen, technische Details auch zur namensgebenden mysteriösen „Flüssigkeit Magnon“ gibt es keine. „Planet Magnon“ zieht seine Faszination in erster Linie aus der Beschreibung der unterschiedlichen Kollektive (die teilweise auch als Parodie des akademischen Betriebs lesbar sind) und der Hinweise darauf, wie der Computer ("ActualSanity") auf die Gesellschaft einwirkt. Am Ende stellt sich die Frage, ob das aggressive "Kollektiv der gebrochenen Herzen" nicht sogar nötig (und durch ActualSanity gewollt) ist, um das Gleichgewicht der Gesellschaft zu erhalten.

In der Grundthematik ähnlich, aber in der Ausführung viel "realistischer" ist Theresa Hannigs Roman "Die Optimierer", der im Oktober 2017 erschien. Der Roman spielt im München des Jahres 2052. Anders als etwa in Carl Amerys Klassiker "Der Untergang der Stadt Passau" (1975) ist Bayern kein Opfer postapokalyptischer Wirren, sondern wohlhabener Teil einer stabilen und nach außen abgeschotteten Bundesrepublik Europa (BEU). In der BEU wurde nach dem Kollaps der EU die soziale Marktwirtschaft durch eine "Optimalwohlökonomie" ersetzt: Jeder erhält ein bedingungsloses Grundeinkommen, darüber hinausgehende Lebensentwürfe werden von einer Agentur nach dem fast kommunistisch anmutendem Motto "Jeder an seinem Platz" verteilt, basierend auf Fähigkeiten, Interessen und bisherigen Leistungen, die in Sozialpunkten gezählt werden. Wer nicht arbeiten will oder kann, oder für wen das System keine optimale Verwendungsmöglichkeit findet, wird in die "Kontemplation" geschickt, sozusagen ein aufgezwungenes zehnjähriges Sabbatical, bei dem man tun kann was man will -- nichts, Hobbys frönen oder sich weiterbilden, falls man später erneut eine "Lebensberatung" haben möchte, um doch noch einer geachteten Tätigkeit nachzugehen.

Der Mensch als Vollstrecker von Algorithmen

Anders als in "Planet Magnon" sind es in "Die Optimierer" noch Menschen, die Lebensberatungen für andere vornehmen, wenn auch unterstützt durch allgegenwärtige Daten zu allem und jedem, per Kontaktlinse ständig im Sichtfeld. Einer der Berater ist Samson Freitag, ein Beamter. Er lebt ein angesehenes Leben im Sinne des Systems, hat viele Sozialpunkte, die eine baldige Beförderung versprechen -- insgesamt ein ruhiges, vorhersagbares Leben, inklusive der Option, es nach 85 Jahren freiwillig zu beenden, um der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Diese Ordnung gerät aus den Fugen, als verschiedene Ereignisse zu immer schlechteren statistischen Bewertungen und Vorhersagen über Freitag führen -- obwohl er, wie er selbst mehrfach betont, überhaupt nichts falsch gemacht hat, sondern im Gegenteil die Regeln des Systems buchstabengetreu befolgt.

Das von Hannig beschriebene System ist die logische Fortführung bereits heute absehbarer technischer Gegebenheiten: Big Data, Social Networks, Augmented Reality, Roboter -- diese und andere Versatzstücke wurden schon oft dargestellt. Ich fühlte mich stark an Fernsehserien der 2010er Jahre erinnert, insbesondere "Continuum" und "Caprica". Der Zwang, den das System auf sich für angepasst haltende Individuen so lange ausübt, bis sich diese endlich vom System abwenden, ist aus älteren Dystopien bekannt, insbesondere "1984" und "Fahrenheit 451", teilweise auch "New York 1999". Theresa Hannig gelingt es jedoch, so nah an der heutigen, spezifisch deutschen Gesellschaft zu bleiben und diese zugleich so zu verfremden, dass ihr Roman über technologisch-technokratische Oberflächlichkeiten hinausgeht. Die zunehmende Verlassenheit des Herrn F., pardon, des Samson Freitag erinnert an ein ganz anderes Individuum, das tragisch an übermächtigen Apparaten zugrunde geht: An Josef K. aus Franz Kafkas "Der Prozess".

Die Ausgangslagen beider Protagonisten ähneln sich: Sowohl K. als auch Freitag arbeiten in ihren jeweiligen Institutionen auf mittlerer Ebene und haben es dort zu relativem Wohlstand gebracht; im privaten Bereich leben sie in Beziehungen. Beide bestimmen über den Erfolg anderer Menschen -- Freitag in seinen verbindlichen Urteilen der Lebensberatung, K. in seiner Beteiligung an Verhandlungen mit Geschäftsleuten, die seine Bank aufsuchen. Beide sind auf die weitere Entwicklung ihrer Karriere bedacht und daher besorgt um ihr Ansehen bei Vorgesetzten und Umfeld. Dieses Ansehen wird durch unerwartete Begebenheiten und in der Folge getroffenen falschen Entscheidungen immer mehr gefährdet und schließlich zerstört. Wie K. ist auch Freitag Opfer eines nicht verstehbaren Systems aus Regeln und Urteilen, gegen die man sich nicht wehren kann.

Das Justizsystem im "Prozess" ist durch seine Unzugänglichkeit und Verästelung in immer höhere Stufen gekennzeichnet. Jede Form möglicher Hilfe führt in eine weitere Sackgasse, weil letztlich niemand weiß, wie das System funktioniert, worauf dessen Urteile beruhen und wie man überhaupt zu ihm durchdringen kann. Im Gegensatz dazu ist das optimalwohlökonomische System in "Die Optimierer" scheinbar ganz transparent. Anstatt stickiger Dachbodenkammern in unbekannten Stadtvierteln befindet sich die Zentrale der Münchner Lebensberatung in bester Lage und soll durch viel Glas Offenheit vermitteln. Jeder Bürger kann statistische Daten und Bewertungen über sich selbst einsehen und so theoretisch nachvollziehen, warum bestimmte Optionen gesellschaftlicher Teilhabe möglich oder ausgeschlossen sind. Anders als Josef K. muss sich Samson Freitag nicht ewig fragen, warum er sanktioniert wird. Er kriegt im Gegenteil sogar staatlicherseits Infomaterial zugeschickt, das ihm mögliche Handlungsweisen aufzeigt, um seinen Status wieder zu verbessern. Dazu zählt auch die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge zu jedem denkbaren Aspekt des Systems einzureichen, die oft sogar akzeptiert werden. Damit unterliegt das Individuum zwar dem Zugriff des Systems, aber es hält das System auch aktiv aufrecht. Für Freitag erscheint das verlässlich und fair. Niemand wird wirklich gezwungen, etwas zu tun oder zu lassen, sodass auch beim Lesen des Romans einem stellenweise der Gedanke kommen kann, dass das alles so schlecht nicht ist.

Ohnmacht trotz Transparenz

Bis man begreift, dass die wahren Spielregeln nicht die sind, die Freitag bisher stets eingehalten hat. Trotz all der Daten und Fakten, der Überwachung und der Algorithmen eines überbordenden Fürsorgestaates, für den Freitag selbst steht, muss Freitag erkennen, dass Fehler passieren, wenn man sich zu stark an die Regeln hält. Das Optimum für Person und Gesellschaft ist nicht zwangsläufig das, was die Algorithmen vorschlagen. Freitags Eltern, seine Freundin Melanie und sein Kollege Gordon wissen dies längst, doch Freitag wirkt davon überfordert. Zusätzlich stellt Freitag fest, dass es Bereiche gibt, die komplett außerhalb der offiziellen Spielregeln zu liegen scheinen. Es ist diese Erkenntnis individueller Ohnmacht dem System gegenüber, in der "Die Optimierer" dem "Prozess" besonders nahekommt. Josef K. wunderte sich über seine Verhaftung: "K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht". K. musste erkennen, dass dieser Rechtsstaat und die bekannten Gesetze nur die Oberfläche waren; dass es darüber Mächte gab, deren Zugriff er sich nicht entziehen, die er aber auch nicht erreichen konnte. Samson Freitag macht in "Die Optimierer" ähnliche Erfahrungen, die aber zeitweise wie ungewollte Nebenfolgen der allgegenwärtigen Algorithmen wirken -- oder: Pech.

Theresa Hannigs Roman zeigt, dass die Verheißungen schon heute verfügbarer Technik gepaart mit technokratischen Politikstilen selbst bei Einsehbarkeit der Daten durch die Betroffenen und Feedback-Möglichkeiten eine ähnlich kafkaeske Gesellschaft erschaffen können wie Kafka selbst es gezeigt hat -- nur dass die Wirkung auf aus dem System herausfallende Menschen noch ungleich stärker wäre, da der Kontrast zwischen scheinbarer absoluter Transparenz dieser Gesellschaft und tatsächlicher individueller Ohnmacht so groß wäre: Wenn alles offen ausgebreitet liegt, und jeder alles sehen kann, dann ist man auch allen ausgeliefert. Mit dieser Erkenntnis könnte die Geschichte enden, sie wäre dann ein Kommentar zu den Gefahren des selbstgewählten Überwachungsstaates einer hochgradig vernetzten Gesellschaft. Doch das durchaus überraschende und recht befriedigende Ende des Romans deutet an, dass es beim gezeigten Status Quo wohl nicht bleiben wird. Und tatsächlich ist eine Fortsetzung laut Blog der Autorin bereits in Arbeit.

Theresa Hannigs Roman "Die Optimierer" ist im Oktober 2017 bei Bastei Lübbe erschienen. Leif Randts Roman "Planet Magnon" erschien schon 2015 bei Kiepenheuer & Witsch, als Taschenbuch 2017.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Mario Donick

Autor und Teilzeit-Kommunikationsforscher

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