Annemarie Schwarzenbach

Ausstellung Nicht weit vom Kurfürstendamm steht in einem gepflegten Garten das Literaturhaus Berlin, eine spätklassizistische Villa mit Backsteinfassade und ...

Nicht weit vom Kurfürstendamm steht in einem gepflegten Garten das Literaturhaus Berlin, eine spätklassizistische Villa mit Backsteinfassade und bewegter Vergangenheit - eigentlich der ideale Ort, eine Ausstellung zum 100. Geburtstag der Literatin, Fotografin, Automobilistin, Archäologin und Morphinistin Annemarie Schwarzenbach auszurichten. Doch er ist es nicht.

Das fängt im Eingangsbereich an: Man watet auf der herrschaftlichen Treppe durch Kulturreklamekrempel beziehungsweise Flyer. Im Foyer der Belle Etage werden statt Information zum Leben der Jubilarin hehre Worte zur Legendenbildung geboten. Dann hängen im ersten Stock nicht nur ein Rosenkavalierskostüm vielsagend von der Decke, sondern auch schlampig angebrachte Faksimiles von den Wänden.

Zuvor beeindrucken die Portraitaufnahmen der Berliner Fotografin Marianne Breslauer aus den 1930er Jahren auf dem Treppenabsatz: Sie zeigen ein selbstbewusstes, doch zutiefst verunsichertes, androgynes Wesen, das sich bis zuletzt ums Image bemüht.

Dass Annemarie Schwarzenbach nun wieder entdeckt wird, ist wesentlich ihrem Großneffen Alexis zu verdanken, der auf breiter Front skandalträchtige Familiengeschichte hob. Mit einer Publikation zur Urgroßmutter Renée Schwarzenbach-Wille 2004 und nun der Ausstellung zur Tochter Annemarie im Züricher Strauhof, die via Berlin nach München tourt, zeichnet er zwei bemerkenswerte Biografien der Schweizer Bourgeoisie im 20. Jahrhundert nach.

Annemarie Schwarzenbach studiert nach Privatschulen und Internat Geschichte und Germanistik in Zürich und Paris. Als erste Frau ihrer Familie promoviert sie 1931 mit der Schrift Beiträge zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Im Oberengadin hat sie 1942 ihren Unfall: Sie will nach ihrem letzten Selbstmordversuch und einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie sehen, ob sie noch freihändig Fahrrad fahren kann. Sie kann es nicht und fällt. Annemarie Schwarzenbach stirbt zweieinhalb Monate später an den Folgen ihrer Kopfverletzung.

Zwischen Promotion und Fahrradunfall lebt sie ein Leben auf der Flucht vor sich selbst, vor der dominanten Mutter, um deren Anerkennung sie lebenslang ringt. Sie bleibt von ihr emotional und finanziell abhängig. Annemarie Schwarzenbach reist nach Venedig, Moskau, Persien, durch Asien, Amerika und den Kongo. Sie dokumentiert die Reisen in Zeitungsartikeln, Romanen und Fotografien. Seit 1932 ist sie morphiumabhängig, geht immer wieder auf Entzug.

Nur, das alles wird in der Ausstellung nicht dokumentiert. Sie pflegt Freundschaften, vor allem zu Erika und Klaus Mann. Sie bindet und trennt sich. Sie schmachtet 1936 in Teheran nach der tuberkulösen Tochter des türkischen Gesandten. Sie heiratet dort en passant den französischen Diplomaten Claude Clarac, der es ihr offenbar nicht übel nimmt, dass sie sich gleich an seine Bekannte Barbara Wright hält. Und die Schwarzenbach ist auch schnell wieder weg. Im selben Jahr finden wir sie in der Klinik von Oskar Forel in Prangins am Genfersee.

Angesichts dieser filmreifen Eskapaden wäre man gerne bereit, die Jungverstorbene mit Blaise Cendrars, Robert Walser und Friedrich Glauser in den manisch-depressiv begabte Literatenkader der Schweiz aufzunehmen. Doch diese Liga erreichen ihre literarischen Versuche, Reiseberichte, Novellen und Romane nicht. Warum wird ihr nun dieser Schrein errichtet? Wenn man in Berlin etwas mehr über das soziale und familiäre Umfeld erfahren hätte, über die Geschwister, die Eltern, Ärzte, und ihre Therapien, man wäre durch die Ausnahmeexistenz vielleicht über das Allgemeine der Zeitgeschichte und Defizite der Gegenwart aufgeklärt worden. Die Wanderschau betreibt stattdessen akademischen Boulevard. Wir sehen durch ihre Augen eine verzogene Göre, und das ist ärgerlich.

Annemarie Schwarzenbach. Eine Frau zu sehen. Bis 3. August im Literaturhaus Berlin, vom 24. September bis 23. November im Literaturhaus München

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden