Multitude

Linksbündig Sinnliche Erprobungen zeitgenössischer Kunst auf der Documenta 11

Es sei eine Flucht vor sich, vor der Gewalt, eine Flucht an die Grenze gewesen: Zuerst sehe er Farben, blau und rot, wenn er sich daran erinnere. So beginnt die Erzählung A Season Outside des indischen Dokumentarfilmers Amar Kanwar. Er zeigt in einer der ersten Sequenzen in raschem Gänsemarsch rot bekittelte Männer. Sie balancieren Getreidesäcke. In der nächsten Einstellung sieht man nur eine weiße Linie, die Enden blauer und roter Kittel, nackte Füße, die sich begegnen, die Linie aber nicht überschreiten. Die Säcke werden übergeben, ein absurder Tanz an der indisch-pakistanischen Grenze, der wenig später in einer martialisch-zackigen Zeremonie der rituellen Toröffnung beklemmend konterkariert wird.
Kanwars Film, wie die Mehrzahl der Arbeiten auf der Documenta 11 ließen die Kritiker verstummen, die eine unsinnliche, theorielastige Veranstaltung befürchteten, ja nach den vorausgegangenen Symposien der von dem afrikanischen Kurator Okuwi Enwezor durchgeführten Plattformen 1-4 ein Ende der Kunst heraufbeschworen. Es ist eine weitgehend gelungene, klug präsentierte Unternehmung, die einzig durch ihre Fülle - an vier Standorten zeigen 118 KünstlerInnen ihre Positionen - manchen überfordern dürfte. Statt aufs provokante Statement setzt Enwezor auf die Vielfalt ästhetischer Erfahrung, die "Multitude" experimenteller Kulturen, auf ein Gegenmodell zum herrschenden Gang der Dinge.
Mit dem Konzept des Postkolonialen, das sich nicht auf die ehemals kolonisierten Territorien, ihre Menschen und kulturelle Praxen beschränkt, sieht Enwezor einen Diskurs, der die Debatten der Postmoderne längst abgelöst hat. Hier will der Documenta-Chef die künstlerische Arbeit in eine differenzierte soziale Praxis zurückgebunden sehen. Dies kann nun in der Weise der "direkten Skulpturen" Thomas Hirschhorns in einem Kasseler Unterschichtviertel geschehen oder sich in dem hölzernen Badezuber manifestieren, der von der kalifornischen Künstlergruppe Simparch als Halfpipe für die Skateboardjugend aufgebaut wurde. Dazu zählen das Park Fiction-Projekt, das an der Hamburger Hafenstraße mit Anwohnern für einen selbstbestimmten Städtebau streitet genauso wie die Internetgruppe des indischen Raqs Media Collective. Diese öffentlichen und kooperativen Modelle künstlerischer Praxis sehen sich in Kassel gleichsam zurückgezogener Arbeit an einer Sozialen Plastik gegenüber, wie sie in den Architekturmodellen des über achtzigjährigen Situationisten Constant oder in den architektonischen Collagen des jungen Kubaners Carlos Garaicoa auftreten.
Zwar bildet seit der ersten Documenta 1955 das Fridericianum den Mittelpunkt der Schau, doch hat man programmatisch das Herzstück der Plattform 5 in der provisorisch hergerichteten Bindingbrauerei an der Peripherie der Kasseler Innenstadt untergebracht. Hier gelingen der Documenta 11 die eindrücklichsten Begegnungen: Candida Höfers Fotos Rodins Bürger von Calais treten mit Louise Bourgeois unheimlichen Figurinen in Stahlkäfigen in Dialog, oder das suggestive Video zu Minenarbeitern in Südafrika von Steve McQueen mit der Dokumentation von Allan Sekula, der nach einer "Ikonographie der Arbeit" forscht. Da tanzt Annette Messagers absurdes Marionettentheater neben Yinka Shonibares bunt und kopflos penetrierenden Puppen in Rokokokostümen unter der grünen Reisekutsche.
Mit den Begriffen "Szene und Inszenierung", "Soziale Plastik", dem "Document und Archiv" sind die drei Themenfelder umrissen, die als Vademekum durch die documenta-Plattform führen können. Mit ihrer Perfomance-Installation überprüft Joan Jonas hergebrachte visuelle Konzepte und Vorstellungswelten. Sie kombiniert Versatzstücke früherer Arbeiten ebenso wie Mark Manders, der aber in seinen Räumen eine gänzlich andere vertraute und zugleich verstörende Welt entwirft. Das kann auch wild und stinkig daherkommen, wie bei dem Portugiesen Artur Barrio, der zentnerweise Kaffeepulver, das der Besucher an den Sohlen wieder nach außen trägt, nebst Brot und Wein ins Geviert wirft, oder bezaubernd leicht, wie die Text-Licht Installation von Cerith Wyn Evans, die mit Palme, Discokugel und Computer auskommt.
Dass das Konzept der "Multitude" nicht in Beliebigkeit, die Vielfalt nicht in Einerlei umschlägt, ist dem Umstand zu verdanken, dass bis auf wenige Ausnahmen jede Arbeit eine Verbindlichkeit herstellt und dem beliebigen Allerlei wie den herrschenden Diskursen sich entzieht. Hoffentlich finden diese Maßstäbe weiter Nachhall.

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