Werde ich rechts?

Armut und Migrationspolitik Lörrach, Moral und vom Dilemma arm zu sein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Manch Einer fragt sich in diesen Tagen, ob er sich Lebensmittel und Energie leisten kann. Ich frage mich zunehmend eher, ob ich mir Moral leisten kann?

Als die Flut 2021 den Aufzug in unserem behindertengerechten MFH zerstörte, da dauerte die Instandsetzung über zwölf Monate. Solange blieb ich als Elektrorollstuhlfahrer im 2. OG, und somit in meiner Wohnung eingesperrt. Die Wohnungen im Erdgeschoss sind noch immer demoliert.

Die Sanierungsfirma hat nur Mist gebaut, und ist jetzt pleite. Der städtischen Wohnungsgesellschaft fehlen Geld und Wille, diesen Umstand zu beseitigen. Mein Nachbar wohnt jetzt in einer immer dunklen Wohnung, da sich die Jalousie nicht mehr öffnen läßt. Der Andere kann mit seinem Rollstuhl nicht mehr auf seine winzige Terrasse fahren, weil der Boden nicht mehr ebenerdig ist.

Ja - man kann die Miete kürzen, aber der Hauptanteilseigner der Baugesellschaft ist eben jene Kommune - und damit die öffentliche Hand - die auch die GruSi nach SGB XII gewährt. Und Letztere übernimmt eben nur die tatsächlichen Wohnkosten.

Es klingelt mir wie gestern in den Ohren, als unser damaliger Bundesfinanzminister und jetziger Kanzler hoch- und heilig versprach, dass niemand durch die Flut schlechter gestellt sein würde. Die Wahrheit lautete allerdings, dass sowohl als in NRW als auch in RP nur Schäden ab 5000 € Mindesthöhe kompensiert wurden. Arme Haushalte mit vielleicht 3000 oder 4000 € Hausratschaden gingen vollständig leer aus.

Heute habe ich einen Augenarzttermin vereinbart, weil sich bei meiner Erkrankung Hornhautschäden zeigen können. Er ist im Spätsommer 2023. Privat ginge es nächste Woche. Gestern war ich bei meinem Arzt. Ich habe krebsbedingt nur noch eine - mäßig funktionierende - Niere, und deshalb sind viele Medikamente tabu. Eines der Medikamente, die ich erhalte, das gibt es nur in Dosen von 0,25, 0,5 und 1. Optimal wären für mich 0,75, aber dann müsste man zwei Injektionen verschreiben, und das wäre zu teuer. 50 € im Monat zu teuer.

Apropos - die 50 € Mehr an Bürgergeld gegenüber dem alten GruSi Regelsatz werden von der Inflation und konkret schon allein dem höheren Strompreis gefressen. Gott, war ich sauer, als Welt, Bild, Focus und Co gegen das Bürgergeld hetzten.

Allerdings sind es jetzt auch genau diese Blätter, die Verständnis für die Mieter in Lörrach aufbringen, natürlich ist mir klar auf Grundlage welcher Agenda. Weniger bis gar kein Verständnis habe ich für das Herabreden und Bagatellisieren der Sorgen der Betroffenen durch ein angeblich soziales und mitfühlendes Milieu. Oft lese ich in Kommentaren, dass die doch bessere Wohnungen und den Umzug bezahlt bekommen würden, und der Skandal unnötig sei. Entscheidet dies neuerdings der Verursacher, und nicht die Betroffenen?

Niemand würde schlechter gestellt heißt es. Ein Satz, der bei mir ein DejaVu triggert.

Zunächst einmal werden lediglich Pauschalen von 1500 bis 2000 € für den Umzug gewährt. Und wenn man 75 Jahre alt, krank und allein ist, und das Geld nicht reicht, weil man keine Eigenleistung beim Umzug erbringen kann? Oder Möbel keinen Umzug überstehen? Vom Amt gibt es keine Neuen. Und welche Rechtssicherheit habe ich als Mieter überhaupt, dass die Miete der neuen Wohnung auch absehbar gering bleibt, so fern die Wohnung überhaupt existiert.

Keine Klasse zahlt einen höheren Preis für die Migration als die Mittellosen. Es fängt schon bei den Tafeln an, die mancherorts keine Neukunden mehr aufnehmen. Natürlich soll man das eigene Leid nicht aufrechnen mit dem Schicksal anderer betroffener Gruppen, aber Kompensationen lassen sich eben proportional zu den eigenen monetären Ressourcen leisten. Egal ob bei der Bildung, oder beim Gesundheitssystem. Und die sozialistische Weltrevolution scheint mir auch sehr weit entfernt zu sein. Ja - im Verteilungskampf fängt man manchmal an zu kalkulieren, wenn es an die eigene Existenz geht. Sozial zu sein erscheint mir wohlfeil, wenn man die eigene ungenutzte Lieblingswohnung in Hamburg Altona 24/7 polizeiüberwachen läßt, weil es einem unmöglich erscheint sich von dieser zu trennen (Nicht wahr, Herr Scholz).

Aber selbst der Wunsch zur Verwurzelung scheint auch an ein Mindesteinkommen gebunden. Für die betroffenen Mieter in Lörrach gilt es offenbar nicht. Als ein betroffner Mieter seiner Sorge Ausdruck verlieh, da kommentierte SWR Journalist Martin Rupps folgendermaßen: "Der Mann soll mal den Ball flach halten, meine ich. Als Mieter bei einer städtischen Wohnbaugesellschaft zahlt er weniger als am freien Markt. Das gilt in Lörrach genauso wie in Stuttgart oder Mainz. Dass die Wohnungsbaugesellschaft ihn aus triftigen Gründen „umziehen“ kann, weiß er seit dem Beginn seines Mietverhältnisses. Diese Beweglichkeit kann ihm auch von Nutzen sein, etwa wenn er bei Familienzuwachs eine größere Wohnung braucht." Zitatende. Empathisch geht anders, Herr Rupps.

Und plötzlich spüre ich Dämonen in meine Gedanken ziehen. Sehe übelste Vorurteile über eine weltfremde, arrivierte, Gutmenschenpresse bestätigt.

Ein weiteres DejaVu ereilt mich. Nach dem Brexit Voting wurde in eigentlich aufgeklärten Medien sehr hässlich über die Bexiteer Voters kommentiert. Dies seien hängengebliebene Hinterwäldler, die rechten Rattenfängern auf den Leim gehen, und einer weltoffenen Jugend die Zukunft verbauen würden.

Die ganze Wahrheit sah allerdings etwas differenzierter aus. "Im vergangenen Winter gab es in Großbritannien etwa 31.000 Kälte-Tote, viele davon ältere Menschen, die in schlecht gedämmten Häusern lebten, und von exorbitanten Gas- und Strompreisen überrascht wurden.In den vergangenen 10 Jahren sind die Gas- und Strompreise im Land um 150 Prozent gestiegen. Immer mehr Menschen sehen sich vor die Wahl gestellt, entweder Lebensmittel einzukaufen, oder die Heizung laufen zu lassen.", berichtete die Deutsche Welle im Jahr 2013.

Echte Armut erkennt man in der Ersten Welt inzwischen daran, dass man als Betroffener sogar beim Klassenkampf stört.

Laßt es bitte nicht so weit kommen, dass sich die Ärmsten keine Moral mehr leisten können.

Danke.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hanke

Senior Rossi sucht das Glück, notfalls mit Serotoninwiederaufnahmehemmern

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden