Sein oder nicht sein – Die ewige Suche

Kritik Spektakel, Lecture und Party: Der israelische Wahlberliner Ariel Efraim Ashbel inszeniert „All white people look the same to me“ aus anthropologischer Perspektive

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Eine internationale Performer-Gruppe, Musiker, ein unsichtbarer Chor und ein Kartoffelsack. So wurde vorab das Ensemble beschrieben, das der israelische Künstler Ariel Efraim Ashbel am Donnerstagabend nutzte, um seine Zuschauer in die Welt der Anthropologie zu entführen. Dass diese Welt nicht staubtrocken und langweilig sein würde, war bei einer Live-Performance zu erwarten. Stattdessen erstreckte sich ein wahrer Urwald aus Möglichkeiten auf der Kampnagel-Bühne; belehrend, wandelbar und vor allem eines: vielseitig. Ashbel zeigt eindrucksvoll, wie er mit einem Paradoxon den Abend füllen kann.

Es ist ein Auftritt der fantastischen Fünf als die Performer wortlos auf die Bühne treten. Stereotypen einer modernen Welt: Das schwangere Schneewittchen gesellt sich zur brünetten Lolita-Lady-Gaga, ein tätowierter Robinson Cruseo beäugt eine junge Jamie Lee Curtis im Butler-Gewand und auch ein drolliger Vetter-It-Verschnitt tapst durch eine Umgebung voller bauklotzartiger Gebilde. Die moderne Addams Family tastet sich langsam an das heran, was Ihnen gegeben ist. Und so vollbringt sie eine Reise vom orientierungslosen Naturzustand über die Götzenanbetung bis zur Neuzeit voller philosophischer Ansätze. Von Hegel bis Oscar Wilde.

Dass jeder seiner Rolle gerecht wird, hat maßgeblich mit den Kostümen zu tun, die von Anfang an den Grundstein für ein gedankliches Schubladensystem legen. Es scheint kein Zufall zu sein, dass gerade die in sehr hotte Hotpants gekleidete Lady Gaga zu den geflochtenen von der Decke hängende Ketten mitten im Raum greift und lasziv daran herumschwingt. Ebensowenig verwundert Schneewittchen, das tatsächlich die Flucht-Szene aus dem Disney-Klassiker nachspielt und dabei trotz Babybauch und bravem Äußeren hingebungsvoll kreischt. Lediglich Vetter It beeindruckt mit ungeahnten tänzerischen Fähigkeiten. Die White People als Völkerschau entwickeln sich entlang einer Linie, die vorgegeben scheint. Und doch bilden sie immer wieder ein Kollektiv. Was zu Beginn höchstens durch den gleichen Nagellack erkennbar ist, manifestiert sich nach und nach in einheitlichen Zusammentreffen. Etwa, wenn die fünf eine Göttin im goldenen Bodysuit anbeten oder sie kurz darauf als tanzende Volksbelustigung feiern und ausgelassen dazu singen. Zerrüttet werden diese Gruppen-Momente durch die Verwandlung der Darsteller in Saboteure: Ist ein Part des großen Ganzen abgeschlossen, wird umgebaut, platziert und neu inszeniert; Bauklötze werden verschoben, hochgewachsene Topfpflanzen neu arrangiert.

Ashbel setzt wenig auf Überraschungen. Das Gezeigte ist zwar nicht vorhersehbar, aber doch allseits bekannt. Die Performer spielen und man weiß, dass sie es tun. Wie damals von Brecht begründet, gibt es hier keinen Platz für ausgeklügelte Rollenkonstrukte. Vielmehr dominiert die flache Darstellung von Klischees. Unterstützt wird sie durch eine besonders gelungene Szene, die den Voyeurismus des Spektakels mehr als deutlich macht. Zu bassreichen Sounds treten die Akteure paarweise auf einen Laufsteg, der die Schubladen im menschlichen Denken offenbart. Es ist ein Scharade-Spiel, das die Lächerlichkeit dieser alltäglichen Sortiererei vorgeprägter Vorstellungen hervorhebt. Wenn die pralle Göttin und die zarte Lolita nebeneinander her schreiten, weiß man, dass der Gegensatz „Fat / Thin“ zutrifft. Oder wenn bei „Day / Night“ ein wacher aufgerichteter Mensch voranschreitet, der nächtliche eher lasziv kriechend und dunkel daherkommt. Einen besonderen Höhepunkt erzeugt ein Einwurf, den die meisten wohl einfach als Ergänzung abtun würden: Die Paarung „Performance / Theater“ stellt Kunstformen gegenüber, die sich im Laufe des Stückes immer wieder annähern, aber nie ganz eins werden können. Performance ist offen prozesshaft, situativ und vergänglich; klassisches Theater hingegen ist meist abbildend und wenig diskursiv. Eine Kritik am traditionellen Theater. Doch auch dieses Doppel vergeht. Alles löst sich in der oft diskutierten Schere von Arm und Reich auf. Die meisten Begrifflichkeit sind im Endeffekt reine Spekulation. Man feiert die Existenz von Vorurteilen, von Stereotypen und Klischees. Warum gerade in diesem Moment ein lebendiger Kartoffelsack erscheint, ist nur ein weiteres Mysterium auf dem Weg zur Aufklärung.

Um diesen zu ebnen, werden vor allem Zitate verwandt. Woher sie stammen wird nicht erwähnt, man erkennt vielleicht Oscar Wilde, der Rest bleibt schleierhaft. Ebenso ist es mit der Literatur. Von einer halbnackten Dame präsentiert, könnte sie das visuelle Geschehen erklären. Doch die Momente sind flüchtig. Im Endeffektt bleibt es aber der eigenen Betrachtung überlassen, wie viel Zusammenhang anerkannt wird. Dieser besteht zumindest zwischen Anfang und Ende der künstlerischen Evolution. Sie scheint komplett konträr zu verlaufen. Die äußerlich zivilisierten Menschen müssen erst lernen, zurechtzukommen. Als das Outfit dem Entwicklungsgrad später nicht mehr entspricht, handeln sie hingegen logisch und im wahrsten Sinne des Wortes gezielt. Der im Untertitel der Performance angekündigte pornographische Aspekt „Notes on the national pornographics“ wird angeschnitten, aber nicht ausgereizt, als die Figuren nacheinander in tarzanähnliche Kostüme schlüpfen und der Mann in der Runde weit mehr als nur Bananen auf einem Teller präsentiert. Vielleicht der Ansatz Back to the Roots. Dieser wird erhört, als auf einmal ein Erzähler auf die Bühne tritt, und die bisherigen Schritte mit dem Publikum nachvollzieht. Passend zum Vorjahresthema „Human Zoo“ des fünften Live-Art-Festivals, wird durch Tierpark-Gründer Hagenbeck der Voyeurismus erläutern, den jeder im Raum in diesem Moment durchführt. Die Ebene der Schaulustigkeit wird erweitert und überzogen, bis man sich fühlt wie in einem Museum. Als die zu Ausstellungsstücken drapierten Wilden schließlich den sprechenden Referenten mit einem Volltreffer und lautem Knall erschießen, ist die Verwirrung perfekt.

Der Mix aus Party, Forschung und Extravaganz ist nicht zum Verstehen gemacht. Stattdessen erfüllt er wunderbar das diesjährige Thema Exzess. Es wird in all seinen Facetten ausgespielt, ob als Überbetonung herkömmlicher Gesten oder in Form von ausladenden tänzerischen Einlagen, die, im Gegensatz zu vielen Performances, durchaus ästhetisch sind. Die Darsteller verstehen es, sich der Herausforderung des „Excess yourself“ zu verstehen.

Fast zum Schluss betritt ein nahezu mumifizierter Chor die Bühne und sieht sich langsam umherschreitend forschend um. Das Bühnenverhältnis kehrt sich um: Die Beobachter werden zu den Beobachteten. Man fragt sich: Geht es hier um die Moderne und jede Menge Gesichts-OPs, oder gibt es einen tieferen Sinn? Man überlegt noch immer, als der Chor mit eher schiefen Höhepunkten Hegls „Phänomenologie des Geistes“ zitiert. Bei so starkem Tobak bedarf es einer Anzeigetafel, die den Text verstehbar macht. Denn der Text als Gesang zieht und zieht und zieht sich, bis nur noch einzelne Laute übrig bleiben und die Zeit nur so dahinrinnt. Überforderung macht sich breit, hier wird der Exzess sichtbar. Schneewittchen, das in der wilden Phase seiner Mitstreiter bereits Pocahontas’ „Colours of the Wind“ präsentierte, trällert im Gegenzug mit schönen Tönen eine Hassschrift gegen eben genannten Philosophen.

Zumindest das Ende des Zusammenspiels bringt letztendlich eine Stimmung mit sich, die die bedrückenden und undurchsichtigen Irrungen und Wirrungen der anthropologischen Welt deutlich macht. Was sich anschließt, ist zu diesem Zeitpunkt kaum noch zu erwarten; die während des Chorauftritts langsam abwärts sinkende Spannungskurve schnellt nach oben. Und das auf ungewöhnliche Art und Weise mit dem Abspann. Präsentiert auf dem nackten Rücken der zitierenden Schönheit übernehmen die Buchstaben, die Ashbel selbst mit einem Mini-Beamer auf sie wirft, die fließenden Bewegungen des Körpers. Im Hintergrund haben die Performer wieder zu einer Einheit gefunden und spielen mit der musikalischen Leitung ein Lied, das nach und nach verklingt. Bis es wieder vollends still ist.

Zwei Stunden voll menschlicher Psychologie und Beobachtung. Die Performance des israelischen Berliners ist ein gelungenes Schauspiel der besonderen Art, auch wenn es deutliche Längen gab. Eine ausgeprägte, möglicherweise auch eingebildete Symbolik, Nacktheit und Overacting bedienen Klischees ebenso stark, wie sie inhaltlich reflektiert werden. Somit wird das Ganze zu einer großen Inszenierung menschlichen Denkens.
Wie auf dem besagten Laufsteg treffend gegenübergestellt, ist Performance nicht Theater. Sie lässt sich nicht verallgemeinernd interpretieren und in Schubladen einordnen. Vielleicht ist es das, was Ariel Efraim Ashbel an diesem Abend zeigen wollte. Der Titel der Performance widerspricht dem Inhalt deutlich. So bleibt am Ende doch wieder die Frage: Kann ich verstehen was ich gesehen habe? Oder ist auch „All white people look the same to me“ wieder ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass der vergängliche Genuss auf viele Wege zu interpretieren ist?

Katharina Börries

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Studentenprojektes derMacromedia Hochschule für Medien und Kommunikation unter der Leitung von Dozentin Simone Jung. Neun StudentInnen des Studiengangs Kulturjournalismus bloggen noch bis zum 14. Juni über das Live Art Festival "Exzess Yourself" auf Kampnagel auf liveartfestival.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MHMK Kulturjournalismus

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) Studiengang Kulturjournalismus, Seminarleitung Simone Jung

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