Zwei Gänsefüßchen für eine tolle Soziologin

Plagiatsfall Cornelia Koppetschs Buch „Die Gesellschaft des Zorns“ wurde aus dem Handel genommen. Es sollte mit durchgängig korrekter Zitierweise rasch wieder erwerbbar sein
Ausgabe 46/2019
Die Soziologin Cornelia Koppetsch
Die Soziologin Cornelia Koppetsch

Foto: Imago / Pacific Press Agency

Lange hatte man den Eindruck, die Soziologie habe nicht mehr viel zu sagen. In jüngster Zeit revidierten zwei Bücher diesen Eindruck gründlich. Zum einen Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz, zum anderen Die Gesellschaft des Zorns von Cornelia Koppetsch. Beide wurden in der Öffentlichkeit hoch gehandelt. Der Freitag entdeckte die Autorin früh und bat sie um einen Leitartikel, der erörtern sollte, warum Xenophobie im Osten so ausgeprägt ist. Man las Sätze wie „Flüchtlingspolitik ist eben auch Sozialpolitik“. Das genügte Bornierten dafür, sie als Pegidaversteherin abzustempeln, aber für viele Leser war das eine interessante Perspektive. „Stichworte ‚zur geistigen Situation der Zeit‘“ hatte Jürgen Habermas das genannt. Solche Stichworte lösen sich vom Urheber, werden Allgemeingut auch in der akademischen Sphäre.

Wer weiß schon, wer das Copyright für den Begriff „Spätmoderne“ hat? Oder nehmen wir den Begriff „Neogemeinschaften“, den Andreas Reckwitz in seinem Buch prominent verwendet. Auch Koppetsch arbeitet mit ihm. „Man stutzt, wenn sie den Begriff ‚Neogemeinschaften‘ einführt – so als hätte sie ihn erfunden. Dieser Begriff ist nicht ihrer, er stammt vom Bayerischen Buchpreisträger 2017, Andreas Reckwitz, so geprägt in seinem damals hier ausgezeichneten Buch Die Gesellschaft der Singularitäten“, sagte einer der Juroren des Bayerischen Buchpreises, Knut Cordsen. Das ist falsch. Weder hat Reckwitz den Begriff „erfunden“ – eine simple Google-Recherche hätte erbracht, dass er zum Beispiel bei unserem Autor Franz Schandl 2007 auftauchte –, noch verwendet Koppetsch ihn wie Reckwitz. Neogemeinschaften sind bei ihr (wie bei Reckwitz und anderen) auf digitale Kommunikationsformen gestützt, aber sie sind (anders als bei Reckwitz) eine „Reaktion auf globale Verunsicherungen“.

Pointe nicht erschwindelt

Das Buch wurde – unter unwürdigen Umständen – von der Shortlist des Bayerischen Buchpreises genommen. Denn darin finden sich nicht nur Stichwortübernahmen, sondern diverse Einzelplagiate, also fast identische Stellen aus Büchern, die wie ein Abschreiben wirken. Das wiegt nicht leicht, Koppetsch weist eine Absicht zurück, wohlwollend kann man es als Schlamperei unter Zeitdruck taxieren. Tragischerweise trifft es eine Autorin, die sich intensiv mit anderen Positionen beschäftigt.

Nachdem der Skandal da war, hat Cornelia Koppetsch eine Stellungnahme geschrieben, die ihre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft der Singularitäten en détail dokumentiert. Ich zitiere Koppetsch, Stellungnahme, o. J., S. 2: „Auch ich gehe wie Reckwitz von kulturellen Spaltungen aus. Diese Spaltungen finden sich allerdings nicht nur innerhalb der Mittelklasse, sondern auch in der oberen und der unteren Klasse. Darüber hinaus sind die kulturellen Spaltungen in meiner Theorie nicht primär. Im Zentrum steht vielmehr die Verschränkung ökonomischer, kultureller und emotionaler Spaltungen, die in unterschiedlichen Klassenlagen politisch unterschiedlich mobilisiert werden können. Dem Erfolg des Rechtspopulismus liegt ein vertikales Bündnis von Fraktionen unterschiedlicher Klassenlagen zugrunde.“

Man kann eine solche Pointe nicht erschwindeln, nur erarbeiten. Darauf hinzuweisen, scheint umso wichtiger, als Bücher wie Die Gesellschaft des Zorns zwar viel „diskutiert“, aber selten gründlich gelesen werden. Der Verlag hat das Buch einstweilen aus dem Handel gezogen. Es wird hoffentlich, nun mit durchweg korrekter Zitierweise, bald wieder zu kaufen sein.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 30% Rabatt lesen

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden