Die Ohrenzeugin

Nachtstudio Gisela von Wysocki ergründet die Faszination, die Theodor W. Adorno auf ihre Generation ausübte
Ausgabe 39/2016

Natürlich richtet sich der Roman Wiesengrund, in dem der deutsch-jüdische Sozialphilosoph und Ästhetiker Theodor W. Adorno (1903 – 1969) eine zentrale Rolle spielt, wie jeder Roman an alle. Aber eine Gruppe darf sich doch besonders angesprochen fühlen: die der vielen Menschen, denen Adorno eine große Nummer in ihrem geistigen Leben war, denen er so im Kopf herumspukte, dass sie manchmal um den Schlaf gebracht wurden. Denn darum geht es in Wiesengrund: um eine große Verzauberung, und mehr noch, um eine Heimsuchung.

Es ist nicht das geringste Verdienst von Gisela von Wysocki, dass sie die gewaltige Wirkungsmacht des charismatischen Denkers medientheoretisch reflektiert. Ihre Heldin wird durchs Radio verzaubert. Es sind Vorträge von Adorno, der bei ihr nur nach seinem abgelegten Vaternamen – Wiesengrund eben – heißt, denen die Gymnasiastin Hanna Werbezirk heimlich lauscht. Die überdeutlich artikulierende Stimme im Nachtstudio spricht von Schubert, später von Proust, Hanna versteht längst nicht alles, aber sie lauscht ihm gebannt, atemlos.

Mief der Nachkriegszeit

Hannas Erfahrung, so einsam sie daherkommt, ist eine kollektive. Ausgerechnet Adorno, der Kritiker der Massenmedien, hat mit seinen Hunderten von Radiobeiträgen wie kein zweiter Denker öffentlich gewirkt, hat in den 1960er Jahren ungezählte junge Seelen aus ihrer provinziellen Umklammerung befreit, den Mief der Nachkriegszeit vertrieben, eine Wirkung, die erst vor ein paar Jahren richtig erkannt wurde (siehe Freitag vom 32/2009).

Es bleibt nicht bei der Faszination durch das Radio. Ein paar Jahre später findet Hanna sich als Studentin in einem Frankfurter Hörsaal mit Adorno wieder. Hier ist sie nicht mehr mit ihm allein: „Ich habe die geheime Existenz der Ohrenzeugin abgeworfen. Bin übergewechselt in ein Auditorium, wo mein Kopf neben einer Vielzahl von Köpfen zu sehen sein wird, unverwandt in die gleiche Richtung zeigend wie der Kopf jedes einzelnen anderen auch.“

Kann man die Transformation einer beglückenden quasi-intimen Erfahrung in einen kollektiven Zustand lakonischer beschreiben? Natürlich durchzieht diesen Roman eine autobiografische Spur, wie weit sie geht, lässt sich aus der Ferne nicht beurteilen. Aus dem Klappentext erfährt man, dass Gisela von Wysocki Musikwissenschaften in Wien und Berlin studiert hat und bei Adorno in Frankfurt die Philosophie. Wiesengrund ist ihr zweiter Roman.

Gender

Bekannt wurde die Autorin durch ihre Essays, aber auch durch einen offenen Brief an ihre Kollegin Sibylle Lewitscharoff im Tagesspiegel. Lewitscharoff hatte mit der Frauenbewegung der 70er Jahre „abgerechnet“, wollte sogar eine heimliche Verehrung für Leni Riefenstahl erkannt haben, eine steile These, die ihren Beleg schuldig geblieben ist. „Ich war als Studentin der Philosophie bei Adorno in Frankfurt gelandet, wo ich auch nach seinem Tod geblieben bin und Zugang zur feministischen Szene fand“, erklärte sich Wysocki in ihrer Replik. „Sie hat auf ihre Weise seiner Philosophie des ‚Nicht-Identischen‘, Widerständigen in Spuren einen Ausdruck gegeben. In Frankfurt begegnete ich lauter selbsternannten ‚Nomadinnen‘, denen es im Wesentlichen um Denk-Eskapaden ging. Um kühne, komische und coole Lesarten des ‚Weiblichen‘.“

Eine solche kühne, komische und coole, von Adorno inspirierte Lesart wendet ihr Roman nun viele Jahre später auf Adorno selbst an. Da ein Roman nicht in der Pflicht steht, einen „wichtigen Beitrag“ zur Genderdebatte zu leisten und nichts beweisen muss, ist weder Jargon zu befürchten noch eine Angst von Ambivalenzen. Tatsächlich steht Wysocki beidem fern.

Es ist „Sprechstundenzeit“. Hanna sitzt zum ersten Mal Wiesengrund gegenüber, der erst einmal nicht spricht. Vielmehr fordert er sein Gegenüber auf, von sich zu sprechen, zu erzählen, was sie so macht, wie sie so wohnt. Er schmeichelt ihr durch seine Aufmerksamkeit so sehr, dass sie ihn mit ihren Worten selbst ein bisschen verzaubern will.

Kleines Husarenstück

Das will ihr erst nicht gelingen, sie verwirft diesen und jenen Ansatz einer Erzählung, es wird ein Sprechen in der Möglichkeitsform laut, ein Sprechen, das für den Roman noch wichtig werden wird. Schließlich findet sie einen Weg, indem sie in breitestem Wiener Dialekt von ihrer komischen häuslichen Situation in Frankfurt erzählt. Bald wird klar, dass Wiesengrund vom Klang einzelner Wörter und Silben gebannt wird, vor allem das in die Länge gezogene „Paaassst!“ fährt voll ein; ein kleines „Husarenstück“. „Das Spiel führt in Nachtstudio-Zeiten zurück. Zu einem Sprechen, einem Zuhören, dieses Mal mit vertauschten Rollen.“

Die Sehnsucht nach diesen Nachtstudio-Zeiten bleibt. Aber obwohl das Verhältnis enger wird, entfernt sie sich immer weiter von den Nachtstudio-Nächten. Am schönsten war es doch, als da nur Stimme war! Anders gesagt, als die Stimme – mit einem Geisterkundler, dem Hauntologen Jacques Derrida, gesprochen – noch einem Phänomen gehörte, oder wiederum anders, in den Worten des Romans: „Ein phantomhaftes Luftraumgebilde im UKW-Wellen-Bereich. Ein Geschöpf, das erst in der Nacht zum Leben erwachte.“

In der Zoohandlung

Es entspinnt sich eine Reihe von fein gearbeiteten Szenen, die es alle wert wären, genauer betrachtet zu werden – mit Wiesengrund in der Zoohandlung, mit Wiesengrund, dem gedankenflüchtigen Monsieur Trachmann und seiner apathischen Gattin beim Abendessen in einem Hotel in Kronenberg, mit Wiesengrund und den Studenten bei der Weihnachtsfeier des Instituts, nicht zuletzt aber mit Wiesengrund im vollbesetzten Fahrstuhl: Er, ihr gegenüber, fragt sie, warum es in seinem Seminar so wenig Wortmeldungen gibt. „Es ist ja nicht so, dass meine Beiträge sich auszeichnen würden durch Gedankenarmut“ (was jeden Leser, der von der gleichsam sachlich gedeckten Eitelkeit Adornos gehört hat, zum Schmunzeln bringt). Hanna hätte drauf viel zu antworten, und ins Schweigen hinein entwirft der Roman ein Panorama von Antworten, die nie gegeben wurden, aber nun geschrieben sind.

Es bleibt dabei: Sie findet diesen Mann samt seinem seltsamen Sommerhut mit der aberwitzig großen Krempe faszinierend, seine Handküsse konstatiert sie ebenso lakonisch wie seine vielfach bezeugten Blicke auf die Beine der Studentinnen. Sicher, sie bleibt „cool“, aber was brennt in ihr? Ja, was will diese Hanna eigentlich? Begehrt sie dieses Geschöpf, das nun einmal auch einen (kompakten) Körper hat?

Der Roman verweigert eine Antwort, die Anziehung bleibt buchstäblich etwas versponnen. Als die Hand des Professors beim Dinner wie gedankenverloren auf dem Unterarm von Hanna bleibt, provoziert das bloß einen weiteren lakonischen Kommentar: „Es ist auch so eine Liebesgeschichte, auch ohne Hand und Haut, denke ich.“

Müsste man angeben, in welcher hauntologischen Beziehung all die Leser, Hörer und Studenten zu Adorno gestanden haben, so stünde vermutlich der Begriff der Komplizenhaftigkeit ganz vorn. Das gilt im großen Denkansatz so, man war Komplize gegen die postfaschistische Gesellschaft, aber auch Komplize gegen den fundamentalistischen Teil der Studentenbewegung, der weder von der „Anstrengung des Begriffs“ (Adorno) etwas wissen wollte noch vom leicht sentimentalen bürgerlichen Habitus des Professors. Ein Handkuss vor dem Hörsaal konnte hier „fast den Charakter eines Hochverrats“ annehmen.

Supplement

Das gleiche Verhältnis galt aber auch, so deutet der Roman es an, im Kleinen, Intimen: Nicht Muse oder Begleitung sein, sondern Komplizin, das ist im Grunde genommen, was Hanna sich wünscht. Aber dazu kommt es nicht, worin auch immer die Gründe gelegen haben, ob tatsächlich in der indiskutablen Rolle einer „Nebenbuhlerin“, die ihr Wiesengrund zuzuweisen scheint, als ein blondes Gift die Szene betritt, oder sei es, weil passiert ist, was nicht bedacht wurde: dass „der Zauberer auch schlechte Tage“ haben kann. Hanna gibt ihr Studium in Frankfurt auf, da ist der starke Wunsch des Vaters, eines bekannten Astrophysikers, nach ihrer Assistenz; seine Studie über Simon von Stampfer und dessen „optische Zauberscheiben“ will nicht so recht vorankommen; allein die Motive des Verzauberns in diesem dichten und verspielten Roman würden mehrere hübsche Bachelorarbeiten abwerfen ...

Was von diesem Wiesengrund bleibt, ist die wilde Fantasie, in Wahrheit eine begehrte Frau sein (die Callas), ein Stern, den Hanna nach ihm benennt, und ein Projekt, das so fest in der aufklärerischen Tradition der kritischen Theorie steht, dass es Adorno selbst zwingend gefallen hätte, ein Projekt, dem Geist jener Zeit entsprungen, gerettet ins Heute: „Die Anziehungskräfte in Sicherheit bringen, denke ich jetzt, am Ende eines Tages. Sie sichtbar, zugänglich machen. Anziehungskräfte als Produktivkräfte gewinnen. Ja da steht es, das von meinen marxistischen Kommilitonen geheiligte Feuer. In Anspruch genommen für ein Feuer, das wie eine magnetische Überladung dazu zwingt, Wirklichkeit unentwegt neu zusammenzusetzen.“

Mit dem vorliegenden Roman wurde dieses Projekt nun ein gutes Stück weit realisiert. In welchem Maß die zahllosen Adorno-Lektüren solche Anziehungskräfte entfaltet haben, und wie sie produktiv gemacht werden können, beantwortet Wiesengrund allerdings nicht. In Schriftform, als Buch, ist die „Philosophie der Neuen Musik“ für Hanna einstweilen nur ein Supplement der Stimme aus dem Nachtstudio. Das war nicht für alle so.

info

Wiesengrund Gisela von Wysocki Suhrkamp 2016, 264 S., 22 €

Die besten Blätter für den Herbst

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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