Historiker, die mit dem Begriff der „longue durée“ (lange Dauer) arbeiten, werden die Geschichte der Bundesliga vielleicht einmal als einen schleichenden Auflösungs- und Dekompositionsprozess erzählen, als eine über Generationen reichende, kaum merkliche Vernebelung der Verstandestätigkeit des Menschen, der sich in den Anschauungsformen des Raums und der Zeit bewegt. Bleiben wir bei der Zeit. Nur weil uns die Begriffe fehlen, sagen wir am Anfang dieser 47. Bundesligasaison immer noch „Spieltag“, wenn wir ein Etwas meinen, das von Freitagabend 20.30 Uhr bis Sonntagabend um 19.15 Uhr dauert, und neuerdings ein „Topspiel“ für den Samstagabend kennt und ein Sonntagsspiel, das um 15.30 Uhr angepfiffen wird.
Auch wenn wir also noch keinen passenden Namen für dieses Etwas haben, so wissen wir doch schon sehr genau, was diese Entwicklungen für jeden von uns bedeuten: Eine völlig neuartige Gestaltung des Wochenendes, die uns im besten Fall die Kunst des Kompromisses lehrt, der dann ungefähr so aussehen kann: Samstag kurz nach 17 Uhr Abmarsch in die Sportbar um die Ecke, Zusammenfassung der Nachmittagsspiele auf Sky anschauen, überbrücken mit der Lektüre des Romans Finnegans Wake von James Joyce, den man schon lange mal lesen wollte, von 18.30 Uhr bis 20.15 Uhr das Topspiel des Abends verfolgen. Rest des Abends sinnvoll verbringen, evtl. um 1.15 Uhr zur Wiederholung des Aktuellen Sportstudios 3sat einschalten und zu Michael Steinbrechers sanfter Stimme eindösen. Sonntagnachmittag dann nach Wetterlage kurzfristig entscheiden, ob erneuter Gang in die Sportbar angezeigt ist oder nicht.
Wenn auch dieser Kompromiss im Einzelfall ganz gut gelingen mag, so sind doch viele Opfer dieser Entwicklung zu beklagen: Entwertet werden die klassische Konferenzschaltung im Radio, die verantwortungsvolle Erziehung der Kinder, das gesamtheitliche Denken, die zweite Liga (nur noch Füllmasse) und die Amateurligen (darauf hat Heinz Peter Kreuzer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hingewiesen), gefährdet sind der Sonntagsausflug mit der Liebsten und die fast bedeutungslos gewordene Samstags-Sportschau.
In solchen Krisenlagen sehnt man sich verständlicherweise nach den „guten alten Zeiten“. Und tatsächlich gab es in der Geburtsstunde der Bundesliga einige Spieltage, in der sämtliche Partien am Samstagnachmittag zur gleichen Zeit angepfiffen wurden. Aber noch in dieser ersten Saison des Jahres 1963/64 setzte jene nicht zu bremsende Entwicklung ein, von der hier die Rede ist – und zwar im Weltmaßstab. Wer glaubt, dass in Afrika oder Australien en bloc gespielt wird, der werfe einen gezielten Blick in die Datenbank von weltfussball.de, um sich seiner Illusionen zu berauben; in Sudan zum Beispiel kann sich ein „Spieltag“ über zwei Wochen strecken.
Last but not least ist die Zersetzung des „Spieltags“ ja nur der Anfang. Langsam wird auch die „Spieldauer“ auseinander fallen, mit vielen kleinen Werbeunterbrechungen dazwischen, da braucht man wahrlich kein Prophet zu sein. Dann werden auch so sicher geglaubte Einheiten wie die „Vereinszugehörigkeit“ verschwinden (warum eigentlich kann Ribéry nicht für Bayern und Real spielen?), gefolgt von den Vereinen selbst, an deren Stelle eine schwer fassbare, gallertartige Masse treten wird. Bis wir am Ende aller Tage selbst in unsere Einzelteile zerlegt sind und verschwinden, wir, die es uns heute schon schier zerreißt zwischen der Vorfreude auf das nächste Wochenende und der Verzweiflung über die Totalvermarktung des Fußballs. Alberne Konstruktionen wie „DFL Sports Enterprises“ sind freilich auch nicht mehr als gut geschmierte Rädchen in diesem großen Spiel.
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