Feindbild Grüne

Zeitgeist Sind die Grünen wirklich „weltfremde Spinner“? Warum werden sie so gehasst? Und wo ist die Ökologie geblieben?
Ausgabe 02/2017
Der Helmut Schmidt der Grünen: Boris Palmer
Der Helmut Schmidt der Grünen: Boris Palmer

Foto: Metodi Popow/Imago

Der Grüne Boris Palmer kritisiert gerne die eigene Partei, deswegen gilt er als „unbequem“. Palmer ist Bürgermeister von Tübingen, einer Universitätsstadt, in der große Visionäre gelebt haben: Man denke an Hölderlin oder Ernst Bloch. Aber in dieser Tradition scheint sich Palmer nicht wohl zu fühlen. Er ist eher so etwas wie der Helmut Schmidt der Grünen. Von Schmidt ist der Satz überliefert, dass „zum Arzt“ gehen sollte, wer „Visionen“ habe. Das zielte auf den Parteifreund Willy Brandt. Ganz ähnlich tönte es nun bei Palmer: „Kann man als Bundestagsabgeordnete gut gemeinte Ideen nicht einfach mal im Koffer lassen, wenn sie so offensichtlich dazu dienen können, uns als weltfremde Spinner abzustempeln?“

Was war geschehen? Wollen die Grünen die Noten ganz abschaffen? Marsflüge bis 2018 finanzieren? Den Mindestlohn auf 10,00 Euro erhöhen? Nein, die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Elisabeth Scharfenberg, hatte angeregt, behinderten Menschen unter Umständen sexuelle Dienstleistungen auf Staatskosten zukommen zu lassen. Wahnsinn, noch so ein Vorschlag, und das Abendland geht unter. In Holland, wo es diese Praxis schon gibt, heißt es dagegen viel handfester „Land unter“. Seit Jahren ist das Land, das zu einem Viertel unter dem Meerspiegel liegt, damit beschäftigt, seine Zukunft im Zeichen des Klimawandels nachhaltig zu gestalten. Ökologie verbindet man aber in diesen Tagen ungefähr so mit den Grünen wie die soziale Frage mit der SPD. Also eher vermittelt.

Was Scharfenberg über die Sexualassistenz für schwer Pflegebedürftige sagte, sagte sie auf Nachfrage als Fachfrau für Pflege der Welt am Sonntag, die gleichentags die Meldung raushämmerte: „Grüne fordern für Pflegeheime Prostituierte auf Rezept“. Boris Palmer beklagte nun aber nicht, dass die Medien wieder einmal aus einer Mücke einen Elefanten gemacht haben, um dann hämisch zu berichten, dass der wütende Elefant überall rumtrampelt (der wäre nämlich lieber eine Mücke geblieben). Nein, im Wahljahr gibt er diesen Medien lieber noch Futter: Hilfe, in meiner Partei wimmelt es nur so von weltfremden Spinnern (holt mich da raus!).

Man muss in einem solchen Moment sofort zu einem Plädoyer für mehr Weltfremdheit in der Politik ansetzen. Weltfremdheit könnte hier ja einfach nur heißen, dass sich einer seine Kompetenzen vom Stimmungsdiskurs nicht ausreden lässt. Aber frappierend, wie viel Häme im Moment über die Grünen ergeht, und zwar nicht nur von rechts. Bis weit in die eigene Klientel macht sich ein Unbehagen breit, das man ernst nehmen sollte. Denn es ist das tiefe Unbehagen einer verunsicherten Gesellschaft, die ihren immer noch vergleichsweise kommoden Lebensstil durch die weltpolitische Lage bedroht sieht. Es ist also ein wenig unser aller Unbehagen, das sich in Hass und Häme auf die Grünen einen Ausdruck verschafft.

Diese Ventilfunktion haben die Grünen schon länger. Während sie aber beim „Veggie-Day“ noch als Verbotspartei erschienen, und mit ihr der Liberale als „in Wahrheit“ diktatorisches Gemüt (die Angst aller modernen Eltern!), gelten die Unisextoiletten nun als Symbol dafür, dass irgendwer etwas nicht mitbekommen hat. Und es stimmt ja: Vielleicht gibt es gerade wirklich Wichtigeres als Unisextoiletten in öffentlichen Gebäuden, ein Anliegen, das der neue Berliner Justizsenator zur Chefsache gemacht hat. Aber gibt es nicht auch Wichtigeres, als sich maßlos darüber aufzuregen? Die Welt wird nicht bedroht durch Unisextoiletten, die nun einmal manche wollen, inschallah.

Kommunitarismus vs. Kosmopolitismus

Damit zur Sicherheitspolitik, einem Feld, auf dem die Grünen gerade nur verlieren können. Sagen sie nichts, gelten sie als verpeilt, sagen sie etwas, gelten sie als unglaubwürdig. Vielleicht hilft eine Rolle rückwärts: Ich empfehle einem Realo wie Boris Palmer einen Besuch der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Dort fühlt er sich bestimmt wohl. Er kann sich dann ein Arbeitspapier aushändigen lassen. Nr. 27/2016: „Bis 2050 sollen weltweit voraussichtlich etwa 200 Millionen Menschen aufgrund des Klimawandels auf der Flucht sein. Angesichts dieser Dimensionen erscheint es verwunderlich, warum im jüngst beschlossenen Klimaschutzplan der Bundesregierung viele Zielvorgaben hin zu einer treibhausgasneutralen Zukunft gestrichen wurden. Offenbar wird verkannt, dass die Erreichung des Zwei-Grad-Ziels für Deutschland auch von erheblicher sicherheitspolitischer Bedeutung ist.“

Ist das nun links oder rechts? Nicht leicht zu sagen. Immer wichtiger wird nämlich ein anderer Gegensatz. Der von Kommunitarismus und Kosmopolitismus. Kommunitaristen haben die Gemeinschaft im Blick, Kosmopoliten die Weltgesellschaft. Die einen sind eher für Globalisierung, die andern eher gegen deren Kosten, die einen wollen Grenzen eher dicht machen, die anderen möglichst offen halten. Aktuell wird über diesen spannenden Gegensatz am Berliner Wissenschaftszentrum (WBZ) nachgedacht.

Man kann sich zum Vergnügen überlegen, wo die Parteien in diesem Konfliktfeld stehen. Klar scheint, dass sich keine Partei mehr einen reinen Kosmopolitismus leisten kann, siehe die Linke. Ebenso klar ist aber, dass es eine Nachfrage nach Weltoffenheit gibt. Die Grünen wären gut beraten, diese Nachfrage zu bedienen, auch wenn das in manchen Ohren wieder weltfremd klingen mag.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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