Dass in Zeiten, in denen uns eine Lungenkrankheit in – Pardon! – Atem hält, ein Buch, in dem das Leben einer Atemlehrerin erzählt wird, auf eine erhöhte Aufmerksamkeit stößt, soll den nicht stören, der findet, dass dieses Buch unter normalen Umständen womöglich nicht die Beachtung gefunden hätte, die es verdient.
Denn Christoph Ribbat erzählt zwar ein Jahrhundertleben, aber nicht so, dass wie etwa bei Ernst Jünger ein Setting an verkaufsträchtiger Bedeutsamkeit (Krieg, Drogen, Sex, nein, Sex auch da nicht, aber Weltliteratur!) gleichsam von selbst mitverkauft wird. Das Buch handelt von einer Frau, die 1901 in Berlin als Carola Joseph geboren wurde, nach der Heirat mit einem böhmischen Zigarettenfabrikanten Spitz hieß und sich bis zu ihrem Tod 1995 in New York Carola Speads nannte.
Sie ist Gymnastiklehrerin, die sehr spät zwar ein Buch geschrieben hat, das aber kein Bestseller wurde, und anders als Feldenkrais oder Rolfing gibt es heute keine „Methode Speads“. Nein, meint auch Ribbat, Professor für Anglistik an der Universität Paderborn, nachdem er die Geschichte erzählt hat: „Sie hat die Welt nicht verändert“, fügt dann allerdings hinzu: „Aber die Welt hat ihr auch keine Gelegenheit dazu gegeben (…). Carola Spitz’ Leben ist ein Beispiel für die Spannungen des 20. Jahrhunderts, die so viele Biografien zerstörten, limitierten, als absurd erscheinen ließen.“
Wanderungen im Schwarzwald
Wie Ribbat diese Spannungen in seine Biografik einwebt, ist betörend, an entscheidender Stelle auch verstörend. Denn die Berliner Jüdin hat anders als die meisten in ihrer Familie den Holocaust überlebt, sie konnte sehr spät noch in die USA emigrieren, gesprochen hat sie über ihr Schicksal und das ihrer Familie, soviel die Quellen hergeben, kaum. Auch ihr Mann, den sie mutig aus dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz geholt hatte und mit dem sie geflüchtet war, scheint geschwiegen zu haben. Ribbat lässt uns an seinen Zweifeln und seinem Arbeitsprozess teilhaben, er legt sein Material offen, es ist eine transparente Schreibweise, die Leerstellen nicht durch Erfindungen übertüncht.
Das hat zur Folge, dass manche Kapitel im Leben der Carola S. unterbelichtet bleiben. So erfährt man nur wenig über ihr Studiensemester 1922 in Freiburg, wenig von ihren Wanderungen im Schwarzwald, die ja nicht einfach ein Gehen durch den Wald waren, sondern das hochideologische Projekt einer Lebensreformerin, wie es damals Zigtausende gab, und es muss gesagt werden, dass ein Zweig dieser Ideologie nahtlos im Nationalsozialismus aufging oder, wie das autogene Training, doch kontaminiert wurde. Derselbe Johannes Schultz, der Millionen Menschen den Stress mit Parolen wie „Dein Arm wird ganz schwer“ nahm, propagierte im Dritten Reich die Sterilisation von psychisch Kranken. Aber noch ist der Körperkult der 1920er Jahre „unschuldig“, allenfalls penetrant antimodern.
Bewunderte Lehrerin von Carola wird Elsa Gindler, die die Tuberkulose überwand und in ihrer „Schule für harmonische Gymnastik“ in der Kurfürstenstraße eine Form von Körperarbeit lehrt, die mit Worten wie „Stille“ und „Achtsamkeit“ umschrieben ist. Und weil diese Achtsamkeit ja gerade schwer in Mode ist und sich der Verlag davon bestimmt etwas versprach, heißt das Buch im Untertitel Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.
In New York lebt sie an der jüdisch geprägten Upper Westside und eröffnet ihr „Studio für körperliche Umerziehung“ (!) direkt am Central Park. Ribbat erzählt in seinem Buch auch die Geschichte einer Mode im Grenzgebiet von Intellekt und Esoterik. Bis in Carolas Studio dringt die therapeutische Kultur der 1970er Jahre aus Kalifornien. Schließlich also veröffentlicht auch sie ein Buch, Breathing. The ABC’s, mit zeitgeistigem Cover. Da sind 54 Jahre „vergangen, seit die Pössenbacher Buchdruckerei und Verlagsanstalt Carola Joseph erstmals in Berlin anschrieb, um sie als Autorin zu gewinnen“.
Schrift eines Lebens
Immer wieder schlägt Ribbat weite Bögen über Zeiten und Räume, erzählt nicht linear. Das verleiht der Erzählung zuweilen etwas Hektisches. Ganz im Unterschied zu Carolas Therapie, die die Menschen zur Ruhe kommen lässt. Atemlos werden sie durch Krankheit, Stress, Luftverschmutzung. Ihre New Yorker Gegend verändert sich, Puerto Ricaner ziehen zu zehnt in überteuerte Wohnungen, viele von ihnen leiden an Asthma, aber sie finden ebenso wenig in ihr Studio wie die Crack-Raucher der 1980er Jahre, die unter schweren Atemproblemen leiden.
Dann wird die Luft wieder besser, weil die Industrie aus New York wegzieht. Ihre treueste Klientin, die Opernsängerin Susan Gregory, kommt zurück, 32 Jahre wird sie ihre Schülerin sein (außerdem ist sie, neben Carolas Tochter und ihren drei Enkeln, die wohl wichtigste Quelle für das Buch). Wir schreiben schon die 1990er Jahre, Carola unterrichtet immer noch, langsam fällt sie aus der Zeit. In ihrem Studio sind die Jalousien unten, kurz gehen sie hoch: „Dann ruhen sie wieder im dunkleren Studio. Liegen auf dem Bauch. Heben ein Bein an. Senken es wieder. Atmen.“
An dieser Stelle ist „Biografie“ beim Wort zu nehmen: Schrift eines Lebens. Im Fall von Carola auch: des Überlebens. Und eines Lebensthemas, das schon früh grundiert wird: Im März 1911 erkrankt die neunjährige Carola. Ihr Husten „klingt wie Hundegebell“, Krämpfe erschüttern den Brustkorb. Sie ist an Diphtherie erkrankt, allein 1892 sterben 50.000 Kinder in Preußen daran, Carola überlebt die Krankheit.
Wie gesagt, es wäre dem Buch zu gönnen, wenn es durch seine zufällige Aktualität die Aufmerksamkeit bekäme, die es verdient. Und es wäre schön, wenn diese nicht naive und doch gut lesbare Form der Biografik viele Leser fände. Von Christoph Ribbat ist übrigens noch so eine Biografie erschienen: Deutschland für eine Saison. Die wahre Geschichte des Wilbert Olinde jr. (Suhrkamp 2017). Und so wenig man für Atemtherapien schwärmen muss, um sein aktuelles Buch zu lesen, so wenig muss man ein absoluter Basketballfan sein, um jenes zu genießen.
Info
Die Atemlehrerin. Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm Christoph Ribbat Suhrkamp 2020, 191 S., 22 €
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