Wer den Hut aufhat

Essay In medialen Debatten verwischen sich die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem. Aus Bürgern und Journalisten wird ein Volk von Richtern
Ausgabe 35/2018

Ich mag mich nun nicht gerade als Experte in Sachen Asia Argento bezeichnen. Und doch fühlte auch ich mich genötigt, einige Informationen über die italienische Schauspielerin einzuholen, als bekannt wurde, dass sie vor Jahren den damals minderjährigen Schauspieler Jimmy Bennett sexuell genötigt haben soll, ausgerechnet sie, die als eine der ersten Frauen öffentlich gegen Harvey Weinstein aussagte.

Habe ich eben „aussagte“ geschrieben? Ist das wirklich der richtige Ausdruck? Oder ist er der Tatsache geschuldet, dass unser Reden über solche Fälle zwangsläufig eine juristische Färbung bekommen muss? Wer bin ich, der ich mir durch das billige Mittel einer Google-Recherche Informationen zum Fall Argento einhole und diese bewerte (A. stammt aus einer Film-Familie, stand schon als Kind vor der Kamera, wichtig, wichtig!)? Einfach nur ein Mensch, der Anteil an den Debatten der Zeit nimmt? Oder nicht vielleicht doch ein wenig mehr: Winkeladvokat, Geschworener, Rechtsgutachter und Richter in einem?

Dass Debatten wie MeToo zwangsläufig das Intime aus der Privatsphäre in die Öffentlichkeit katapultieren, ist das eine. Etwas anderes ist es, wie dieser Prozess uns in Rollen drängt, denen das Unbehagen wie eine zu enge Unterhose im Schritt klebt.

Bild-Chef und Merkel-Gegner

Vielleicht erinnert man sich noch, wie Feministinnen im Fall Gina-Lisa durch die penible Sichtung von Pornos prüfen mussten, ob sich Gina-Lisas „Hör auf!“ auf den Geschlechtsverkehr oder nur auf das Abfilmen desselben bezog. Die zuständige Richterin Antje Ebner kam bekanntlich zu einer anderen Auffassung als die Gutachterinnen, nicht zuletzt, weil ihr Material vorlag, das der Öffentlichkeit vorenthalten blieb. Hat das Urteil der Richterin nachdenklich gemacht? Wer auf einen Läuterungsprozess gesetzt hat, verkennt, dass oben beschriebene Rollen wenig Raum für Rollendistanz vorsehen.

Anders gesagt: Der publizistische Aktivismus verträgt weder Zweifel noch Ironie, dies wäre einer Literatur vorbehalten, die sich bewusst gegen den Aktivismus stellte und als „reaktionär“ verdächtigt würde. Dieses Risiko scheint keiner und keine eingehen zu wollen, und so kommt es, dass wir uns zwar ätzende Satiren über penible Sichtungen von Pornos vorstellen können, sie aber in den Buchhandlungen einstweilen nicht finden. Und so erinnert ein Fall wie Asia Argento oder der der Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell (freitag.de vom 13. Juni 2018) von ferne daran, dass die höfische Kultur mit ihren Ränken und schmutzigen Geheimnissen weiterlebt, allerdings ohne die Gefährlichen Liebschaften.

Dabei wäre von Avital Ronell noch am ehesten ein solches Werk zu erwarten, etwa die frivole Weiterschreibung von Rousseaus Bekenntnissen. Patrick Bahners hat in der FAS gezeigt, wie die Inszenierung der Beziehung zu ihrem Doktoranden Nimrod Reitman den Regeln dekonstruktivistischer Literatur folgt.

Sie tut es in den öffentlich gewordenen E-Mails so sehr, dass selbst die Klageschrift von einem „fiktiven“ romantischen Verhältnis spricht, das Reitman aber von Ronell aufgenötigt worden sei. Nun macht Bahners zwar geltend, die Professorin könne durchaus darauf hinweisen, dass ihr Doktorand gehörig mitgespielt hat, bis zum Thema seiner Dissertation. Aber auch der große spielerische Anteil einer Beziehung – von der Dekonstruktion notorisch mit dem Begriff der Verführung umschrieben – macht die Vorwürfe von Stalking und Nötigung nicht obsolet, meint Bahners, der aus dem Umstand, als Publizist in die Rolle eines Gutachters gedrängt zu werden, offenkundig die Konsequenz maximaler Gewissenhaftigkeit gezogen hat.

Es gibt indes noch andere aktuelle Fälle, die uns in unbequeme juristische Rollen drängen. Dass sich im Fall Sami A. ein Innenminister hat hinreißen lassen, dem Oberverwaltungsgericht Münster eine Lektion in Sachen Rechtspopulismus zu geben, wurde nur noch durch den Bild-Chefredakteur Julian Reichelt getoppt, der sich angesichts der vermeintlichen Weltfremdheit des Urteils gezwungen sah, „faktisch den übergesetzlichen Notstand“ auszurufen, wie es der Publizist Franz Sommerfeld ausdrückt.

Statt sich zum Kronjuristen der Merkel-Gegner aufzuschwingen, wäre es für uns Publizisten möglicherweise angemessener, erst einmal ein bescheidenes Referendariat zu machen – und gleich den Fall des Mitarbeiters des LKA, der auf der Pegida-Demo gesichtet wurde, auf den Tisch geknallt zu bekommen.

Es stellt sich die Frage, ob ein LKA-Mitarbeiter in seiner Freizeit tun und lassen kann, was er will, zum Beispiel auch auf eine rechtsextreme, aber geduldete Demonstration gehen. Ist Gesinnung auch dann Privatsache, wenn sie offenkundig undemokratisch ist? Oder sollte sie zu disziplinarischen Maßnahmen führen? Zumal, da der Mann Tarifangestellter und kein Beamter ist, hat man laut Experten einen Ermessensspielraum. Man muss ihn sorgsam ausloten. Strafbar sind Taten, nicht Gesinnungen, auch wenn klar ist, dass üble Gesinnungen strafbare Taten hervorbringen können.

Es ist heikel. Man müsste an den Radikalenerlass erinnern, der notabene unter der Regierung Brandt erhoben wurde und viele radikale Linke mit Berufsverboten belegte, aber auch an die Gesinnungsschnüffelei der Stasi. Kleines Gedankenspiel: Was wäre eigentlich gewesen, wenn das Ministerium für Staatssicherheit die Protokolle nicht geheim gehalten, sondern öffentlich gemacht hätte, sodass sich jeder Bürger ein Urteil über den Grad falscher Gesinnung dieses oder jenes Bürgers hätte machen können? Was hätte das aus der DDR gemacht? Vollends einen Überwachungsstaat? Oder das Gegenteil?

Ein Irrwitz? Gewiss, aber der ist verbreitet und findet sich auch darin, dass unser Mann ja unmittelbar mit juristischen Fragen beschäftigt ist. Wie die Welt herausgefunden hat, ist er im Ermittlungsdezernat für Wirtschaftskriminalität tätig, „schreibt Gutachten und tritt für das LKA auch in Gerichtsprozessen auf“. Aber sein Rechtsempfinden hat ihn möglicherweise nicht vor einem Fehlurteil in eigener Sache bewahrt. Die meisten Kommentatoren finden nämlich im Unterschied zu ihm nicht, dass „eine Straftat“ begangen wurde, als er am Rande des Aufmarsches in Großaufnahme gefilmt wurde. Allgemeiner Tenor: Wer auf eine öffentliche Demo geht, nimmt in Kauf, gefilmt zu werden.

Hier ist kein Dicker

Wer so argumentiert, kann sich auf den Paragrafen 23 des Kunsturhebergesetzes (KUG) berufen, der besagt, dass Journalisten Aufnahmen von einer Versammlung ohne Einwilligung der Abgebildeten veröffentlichen dürfen. „Die Aufnahme muss die Veranstaltung selbst zum Gegenstand haben“, erläutert der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) den Paragrafen. „Einzelporträts gehen nur, wenn der Abgebildete besonders repräsentativ für die Demo ist oder sich selbst in besonderer Weise exponiert – etwa indem er eine Rede hält.“ Nun hat sich der LKA-Mann tatsächlich exponiert und eine wütende Rede gehalten, allerdings indem er in eine laufende Kamera gesagt hat, dass er nicht aufgenommen werden will.

Scheint sich die Grenze von Privatem und Öffentlichem in unserer Gesellschaft sowieso zu verwischen, ist ein Verständnis für den Wunsch des Mannes hier gleich gar nicht zu erwarten, denn natürlich ist es paradox, dass jemand zu einer Demonstration geht und sich dabei der Öffentlichkeit nicht zeigen will (demonstrare = zeigen).

Dieses Paradoxon ist vielleicht nur mit psychoanalytischem Besteck zu fassen, und man glaube ja nicht, dass der Kamerablick, den wir teilen, neutral wäre und keinen aggressiven Wunsch ausdrückt, aber ein Wechsel der Register scheint juristisch unfruchtbar. Medienrechtlich bleibt der Fall komplex. Der Paragraf 23 des KUG besagt weiter, dass Einzelporträts veröffentlicht werden dürfen, wenn sie ein „Bildnis der Zeitgeschichte“ darstellen.

Dass der LKA-Mann durch sein Verhalten ein solches Bildnis geliefert hat, meint auch Gernot Lehr, Fachanwalt für Medienrecht, der von Frontal21 nach der Rechtmäßigkeit ihrer Aufnahmen gefragt wurde. Leer lässt aber offen, wie das „Bildnis“ dargestellt werden muss. Ist es wichtig, dass der Demonstrant ein Deutschland-Hütchen trägt? Eine Sonnenbrille? Ist der sächsische Dialekt von Belang? Oder hat nicht selbst dieser Mann einen Anspruch auf einen Schutz vor sich selbst und vor der sozialen Ächtung? Wer diese Fragen bejaht, hat technische Möglichkeiten: verpixeln, die Stimme verfremden.

Die Welt hat verpixelt, Frontal21 nicht. Warum nicht? Eine Nachfrage beim Sender erweist sich als zäh, der Pressesprecher verweist mich auf die Äußerungen von Lehr in dem Beitrag, der aber auf diese Frage nicht Bezug nimmt.

Auf meine nochmalige Frage, warum nicht verpixelt wurde, schreibt mir der Redaktionsleiter: „Die Aufnahme des auf das Team zugehenden Demonstranten (inkl. Begleiter) war als zeitgeschichtliches Ereignis – Pegida-Beteiligte wollen öffentlich demonstrieren, dabei aber entgegen Paragraf 23 KUG nicht von den Medien aufgenommen werden – zulässig. Die Aufnahmen dürfen in der Berichterstattung über dieses Ereignis verwendet werden.“

Sprich: Bei uns hat keiner an eine Verpixelung gedacht. Warum auch? Das Gebot, sich kein Bildnis zu machen, muss einer Boulevardsendung umso fremder sein, als hier die Gelegenheit bestand, den „hässlichen Deutschen“ in ikonografischer Gestalt vorzuführen und sein realsatirisches Potenzial voll auszuschöpfen. Dass man sich breiter Zustimmung sicher sein kann, belegt auch die Berliner Zeitung, wenn sie schreibt: „Der kleine Mann trägt ein Deutschland-Hütchen und ist offensichtlich wütend.“ Dass der Mann gar nicht besonders klein ist, scheint egal, aufs Detail kommt es nicht an, wenn das große Ganze gemeint ist. Eher schon müsste man ihn als dick bezeichnen, aber das traute sich die Berliner Zeitung dann doch nicht, könnte Ärger geben.

Die Häme, die in anderen Fällen stumm bleibt, wird hier laut. Kann man so machen, aber mit welchem Recht will man dann Einspruch erheben, wenn linke Demonstranten gegen ihren Willen am Rande einer Demo kenntlich gemacht werden (und es muss noch nicht einmal im Rahmen einer widerwärtigen Aktion wie der Foto-Fahndung der Bild-Zeitung nach den G20-Demonstranten sein). Zu „Bildnissen der Zeitgeschichte“ werden auch sie rasch mal.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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