Die blühende Sprache

Auflösung Die finnischstämmige Lyrikerin Dorothea Grünzweig ist eine Bürgerin zweier Sprachwelten. Ihre Gedichte suchen das Land "oben im Licht"

Unsere früheste Empfindung von Poesie verdanken wir oft den Liedern aus der Kindheit. Es sind Lieder, die eine Verheißung von Heimat und Geborgenheit bewahren, Wiegen- und Schlaflieder oder auch Kirchenlieder, in denen eine Verheißung der Paradiessprache aufblitzt. In den Gedichten Dorothea Grünzweigs, die in einem protestantischen Pfarrhaus in Korntal bei Stuttgart aufgewachsen ist, vernehmen wir das Echo dieser geistlichen Lieder. Einige dieser Lieder verweisen in ihre jetzige Heimat, nach Finnland, wo sie seit 1989 als „Bürgerin zweier Sprachwelten“ lebt: „Oben im Licht ist die Heimat der Seele“. Dieses Land „oben im Licht“ erscheint in Grünzweigs Gedichten als ein Ort der Rettung, des Schutzes vor Verhängnis und Untergang. Ihr Vater war als verwundeter Soldat in ein Lazarett in Finnland gekommen – so lesen wir es im Gedicht „traum mit vielen trieben“ aus ihrem neuen Band Die Auflösung. Später sind es dann ganz andere Wege sein, die Dorothea Grünzweig als Lehrerin selbst nach Finnland führen. Dort beginnt sie im Jahr 1994 Gedichte zu schreiben, die von einem „Nachglühen des Gartens Eden“ handeln.

Die poetische Erinnerung an die Figur des Vaters hat aber auch andere Facetten. In einigen Gedichten des Bandes glasstimmen (2004) ist der Vater und mit ihm seine Ehrfurcht gebietende Sprache unerreichbar, nicht auf Augenhöhe. Um die Wörter des mächtigen Pastors zu begreifen, so schreibt Grünzweig in einem Essay, „mussten wir uns nach hinten lehnen, die Knie anwinkeln und nach oben schauen.“ Im Gedichtband Die Auflösung geht nun der Blick wieder nach oben. Diesmal aber nicht aus Ehrfurcht, sondern aus Hoffnung. „Oben im Licht ist die Heimat der Seele“: Aus der alten Liedzeile baut Dorothea Grünzweig hier ein langes Gedicht der Erinnerung – wie fast alle Gedichte dieses neuen Buches Gedichte der Erinnerung sind und des Eingedenkens.

Es sind die Gestalten des Vaters und vor allem der Mutter der Autorin, die hier in intensiven, leuchtenden Bildern vergegenwärtigt werden, dazu die die Winter- und Frühlingszeichen der finnischen Landschaft. Im „journal in mai- und vogelfühlung“ entwirft die Dichterin zarte Bilder unmittelbarer Berührung mit den „Wesen zwischen Erde und Himmel“. In allen Kapiteln des Buches dominieren aber Figurationen des Abschieds: eines Abschieds von der Herkunftswelt, vom Elternhaus und von den Dingen und Wörtern, die einem dereinst Halt gegeben haben. Das lange Titelgedicht berichtet von der „Auflösung“ der biografischen Verankerungen, von der Trennung von liebgewonnenen Dingen.

Und beides, die Furcht vor dem endgültigen Verlust und die Hoffnung darauf, etwas poetisch bewahren zu können, hat sich in diese Gedichte eingeschrieben: „DIE MUTTER LIEGT IM DÄMMERZIMMER / sie hängt am tropf sie schweigt und / schaut durch ritzen der hoffnungsrollos / in eine blühende sprache hinein // die kinder locken die wörter der mutter / sie bitten sie ihre hand zu drücken / falls sie von lebenden wörtern weiß / sie drückt ihre hand und schweigt / dann beginnt die genesung ...“ Jenseits aller Verluste bleibt in diesen Gedichten eine romantische Utopie immer erreichbar: „die blühende Sprache“.

Dorothea Grünzweig, Die Auflösung. Gedichte, Wallstein, Göttingen 2008, 125 S., 19,90

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