(149) Wählen und Wählen ist nicht dasselbe

Präsentative Demokratie Mit diesem Eintrag beginnt ein Kapitel aus Hinweisen auf die Geschichte des Wählens. Die Perspektive ist diskursanalytisch

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(149) Wählen und Wählen ist nicht dasselbe

Foto: YURI KADOBNOV/AFP/Getty Images

[Zweierlei vorab. Erstens, ich nehme die schon abgeschlossen geglaubte Blogserie „Die Andere Gesellschaft“ noch einmal auf; ich habe mir klar gemacht, dass zwei Kapitel noch zu ergänzen sind. Zweitens: Die Blogserie wird fortan auf der Seite des KANN-Verlags veröffentlicht - hier. Deshalb folgt unten nicht die ganze 149. Notiz, sondern nur eine zentrale Passage daraus. Um zum Gesamttext dieser neuen Notiz zu gelangen, klicken Sie bitte hier. Auf der Freitag-Seite werde ich auch die noch folgenden Einträge nur ankündigen und in den nächsten Tagen auch alle bisherigen 152 Einträge (148 „Notizen“ und vier „Beilagen“) zur bloßen Ankündigung auf die jeweils ersten Zeilen reduzieren.]

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Wir haben es mit einer Verfassung zu tun, in der gewählt wird, und doch sind „oben“ und „unten“ recht klar verschieden. Das ist Wählen unter dem subsumtiven Diskurs. Unmittelbar an diese Erfahrung anknüpfend, die unsere eigene ist, können wir aber einen weiten Bogen zurück schlagen: Schon in der antiken römischen Republik vertrugen sich Herrschaft und Wählen des Volkes. [...] Es braucht [...] nicht wiederholt zu werden, dass im alten Rom die großgrundbesitzende Aristokratie ökonomisch herrschte und deshalb auch politisch herrschte, wie heute die Kapitalistenklasse. Nein, unsere Frage ist jetzt, wie die auch politische Herrschaft denn möglich ist und zwar selbst dann, wenn formell das Volk politisch entscheidet, indem es wählt.

Antwort gibt ein stets gleicher Mechanismus. Das Volk stimmt ab, die Abstimmungsalternative indes hat eine besondere Gruppe von Menschen vorgelegt, aus deren Beratung sie entstanden ist. Diese Gruppe herrscht, ohne ihre Herrschaft deklarieren zu müssen; das Volk wählt zwar, aber es wählt nur eine Position der Herrschenden gegen eine andere. In den Termini, die ich eben gebraucht habe, pflegt die Sache gedacht zu werden. So von Egon Flaig in Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik, Paderborn München Wien Zürich 2013: Die Beratung oder „Deliberation“ ist auf eine besondere Gruppe von Menschen beschränkt, während das Volk nur über das alternative Ergebnis der Beratung „abstimmt“. Auf der Linie dieser Begriffsbildung liegt es, wenn dann auch über die wahre „deliberative Demokratie“ nachgedacht wird, die sich, wie ihre Verfechter sagen, von der bloß „repräsentativen Demokratie“ unterscheide; über diese Debatte kann man sich bei David van Reybrouk, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016, informieren. Es ist aber vorerst wichtiger sich klarzumachen, dass Begriffe wie „Abstimmen“ und „Deliberieren“ nicht besonders erhellend sind. Bessere Begriffe wären dem Vokabular des Antwortdiskurses zu entnehmen.

[...] Was ist denn Wählen überhaupt, immer und überall, wenn nicht dass eine Frage verschiedene Antworten möglich macht, von denen man eine auswählt? Das kann sich in keinem Diskurs anders verhalten. Die Besonderheit des subsumtiven Wählens liegt aber darin, dass es zwei Wählergruppen gibt, von denen die eine, als überwältigende Mehrheit, nur antworten darf, während die andere, sehr kleine, das Recht hat die Fragen zu stellen. Das Erste wird „Abstimmung“, das Zweite „Deliberation“ genannt, Begriffe, die so tun, als bezeichneten sie zwei Welten, die an sich getrennt sind und wenn überhaupt dann nur nachträglich kompatibel gemacht werden können.

Dass aber die Frage über die Antwort herrscht, solange es nicht möglich ist, im Vollsinn zu antworten, die Frage also gegebenenfalls zurückzuweisen, springt nun sofort ins Auge. Außerhalb des Politischen weiß es jede(r): Hast du deinen Vater heute wieder geschlagen? Wäre ich gezwungen, die Frage zu akzeptieren, ich müsste mich als jemand klassifizieren lassen, der seinen Vater schlägt. Im Politischen ist es nicht anders: Soll eine SPD-Koalition herrschen oder eine CDU-Koalition? Da kann ich wählen was ich will, ich wähle jedenfalls die Kapitalherrschaft. Eine Frage, die nicht zurückgewiesen werden kann, ist in Wahrheit ein Befehl, da eben der in ihr festgeschriebenen Erwartung auf eine begrenzte Antwortmenge, in der allein ausgewählt werden darf, gehorcht werden muss.

[...]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger