1968: Gedanken of Color

Zeitgeschichte Der Gedichtband „An Afrika“ des karibischen Schriftstellers Aimé Césaire erscheint auf Deutsch und greift den europäischem Kolonialismus an
Ausgabe 08/2018
Césaire auf dem „Congress of blacks writers“ 1956 in Paris
Césaire auf dem „Congress of blacks writers“ 1956 in Paris

Foto: AFP/Getty Images

Aimé Césaire, geboren 1913, der zusammen mit Léopold Senghor das Konzept der Négritude begründete, starb vor zehn Jahren. Vor 50 Jahren wurde ein repräsentativer Gedichtband An Afrika von ihm in deutscher Sprache veröffentlicht. Für jemanden wie ihn, der mit an der Spitze der antikolonialen Bewegung stand, gab es 1968, im Jahr der Revolte, viel Aufmerksamkeit. Césaire war aber so wenig wie Senghor, Senegals Präsident zwischen 1960 und 1980, „nur“ Lyriker. Er war der wichtigste Politiker seiner karibischen Heimatinsel Martinique im 20. Jahrhundert. 1945 zum Bürgermeister der Hauptstadt Fort-de-France gewählt, behielt er dieses Amt bis 2001. Zwischen 1945 und 1993 war er zudem ununterbrochen Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung, wo er ab 1946 die Kommunistische Partei Frankreichs vertrat, die er 1956, nach den Enthüllungen Nikita Chruschtschows über die Diktatur Stalins, wieder verließ. 1978 wurde er Mitglied der Sozialistischen Partei.

Césaire hatte 1946 dafür votiert, die bisherigen karibischen Kolonien als französische Überseedepartements weiterzuführen, und die KP veranlasst, dasselbe zu tun. Er glaubte, Martinique ergehe es am besten mit linken französischen Regierungen. Diese Nähe zu Frankreich, ja dieses Inklusionsbewusstsein hat auch seinem Négritude-Konzept von Anfang an den Stempel aufgedrückt. Man kann zwar das Böse und die Grausamkeit des europäischen Kolonialismus nicht schärfer angreifen, als Césaire es getan hat, aber immer protestiert er im Namen eines abendländischen Universalismus der Menschenrechte. Schon in seinem ersten Werk, dem Cahier d’un retour au pays natal (in Deutsch 1962: Zurück ins Land der Geburt und 2009 unter dem Titel Notizen von einer Rückkehr in die Heimat), ist diese Konstellation voll ausgeprägt.

Das Gedicht von der Länge eines kleinen Buchs, geschrieben zwischen 1936 und 1938, veröffentlicht 1947, beginnt mit einem Wutausbruch – „Fort mit dir, rief ich, du Polizistenschnauze, du Kuhmaul, fort mit dir, ich hab einen Abscheu vor den Lakaien der Ordnung“ (Übersetzung: Janheinz Jahn) –, und wird fortgesetzt mit der aggressiven, ja obszönen Schilderung des ganzen Elends der Unterworfenen und ehemals Versklavten.

Was man aber zuerst liest, ist das Motto: „Das Werk des Menschen hat gerade erst begonnen.“ Die Kolonisatoren sind gleichsam die bösen Kinder der Menschheitsgeschichte. Auf den letzten Seiten wird es ausgeführt: Nachdem „wir uns nun erhoben“ haben, wird auch die Stimme laut, und sie „spricht, dass Europa uns jahrhundertelang mit Lügen gemästet“ hat, vor allem eben der, „dass das Werk des Menschen getan ist“. In Wahrheit müsse der Mensch aber „erst die Verbote niederreißen, die rings um seinen Liebeseifer angepflanzt sind“, und das gilt namentlich für den europäischen Menschen. Seine Opfer werden nicht abwarten, wann endlich er zur Besinnung kommt. Sie werden ihn erziehen, notfalls auch züchtigen, ihn aber um der gemeinsamen friedlichen Zukunft willen nicht hassen.

„Das größte lyrische Monument unserer Zeit“

Césaires Karriere als Dichter und Politiker begann damit, dass André Breton, der Kopf der Surrealisten, 1941 mit ihm und seinem großen Gedicht bekannt wurde. Bréton veröffentlichte 1944 einen Text, in dem er das Cahier „als das größte lyrische Monument unserer Zeit“ feiert. Césaire feierte umgekehrt den Surrealismus: Es sei „dieser revolutionären Bewegung“ gelungen, „mit Hilfe der Psychoanalyse und in einer dichterischen Sprache in tiefere Schichten des Bewusstseins einzudringen, wo auch ich mein eigentliches Wesen, mich selbst, den ‚nègre fondamental‘, entdeckte“.

So stand Césaire im Schnittpunkt der politischen und geistigen Strömungen seiner Zeit. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die Perspektive, in der er die afrikanische Sache vertrat, von anderen, die es gleichfalls taten, auch vielfach kritisiert oder gar nicht beachtet. Die Black-Power-Bewegung der USA etwa oder ihr Vorläufer – die schwarze „Islamische Nation“ unter Führung von Malcolm X – glaubten nicht mehr daran, dass Schwarze von Weißen jemals als gleichberechtigt anerkannt werden könnten. In der postkolonialen Zeit schlugen sich Spielarten eines „Synkretismus“ in der schwarzen karibischen Literaturtheorie nieder. Den Anstoß kann man auf Jean-Paul Sartre zurückdatieren, der den Begriff im Vorwort zu Senghors Anthologie de la nouvelle poésie nègre et la malgache de langue francaise (1977) gebraucht und eigentlich zum Ausdruck bringen will, dass die Négritude „zu ihrer Selbstzerstörung da“ sei. Sie sei Antithese zur noch vorhandenen Überlegenheit der Weißen: Dieses Nebeneinander werde notwendig zum universellen Kampf für das Menschenrecht überhaupt. Nicht wenige Empfänger der Botschaft kamen zu dem Schluss, dass Sartres dialektische Zwischenphase schon die Endphase sei. Sie wurde teils eher harmonistisch gedeutet, so von Wilson Harris, bei dem das Nebeneinander schwarzer und weißer Kulturen positive Spannungen erzeugt (The Carnival Trilogy, 1993), teils auch antagonistisch wie von Carole Boyce Davies, bei der Afrikaner und Afroamerikaner ebenso wie Weiße als vielfältig fragmentiert erscheinen, so dass sich etwas wie eine schwarze Identität nur als unversöhntes Hin- und Herpendeln zwischen Elementen wohlgemerkt aller Beteiligten vorstellen lasse (Black women, writing, and identity, 1994).

In unserer Zeit schreibt Achille Mbembe, die Afrikaner seien nicht nur Opfer gewesen, sondern hätten sich auch selbst kolonisiert, indem die europäische Warentauschlogik, die sie habe unterwerfen können, in ihrer eigenen Kultur vorgebildet und von ihr nur allzu bereitwillig aufgenommen worden sei (Critique de la raison nègre, Paris 2013). So könnte man meinen, Césaire sei nur noch historisch interessant und seine Gedanken erschienen aus späterer und gar heutiger Sicht als naiv. Dem ist aber nicht so. Hielte man Césaires Denken für die Ausführung von Sartres schematischer Dialektik – man würde ihn missverstehen. Dies lehrt ein Blick in seine Essays, die zu lesen bis heute ein politischer Gewinn ist. Das wohl Wichtigste ist eine ungehaltene Rede, der Discours sur le colonialisme, 1950 zuerst erschienen, eines der Hauptwerke der Négritude-Bewegung, ein Klassiker dann auch für die 68er Bewegung.

Es ist eine erschreckende Analyse. Hitler, sagt Césaire, habe den europäischen Menschen Jahrhunderte vor seinem Erscheinen bewohnt. Vor ihm seien kolonialistische Methoden auf „die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas“ angewandt worden – mit ihm auf den weißen Menschen selbst. Kolonisierende Nationen riefen eben „zwangsläufig, von Konsequenz zu Konsequenz und von Verleugnung zu Verleugnung, nach ihrem Hitler, das heißt nach ihrer Bestrafung“. Europa habe ja „Rechenschaft abzulegen für den höchsten Leichenberg der Geschichte“. Vor wem aber? Vor „der menschlichen Gemeinschaft“, die es noch gar nicht gibt. Das bedeutet nun eben nicht, dass Césaire schon als emphatischer Mensch kämpfen könnte. Er beklagt vielmehr, dass Afrika sein eigenes Entwicklungstempo verwehrt wurde. Vom friedlichen Kontakt mit Europa hätte der Kontinent gewonnen, vom gewaltsamen wurde er weit zurückgeworfen.

Wer denkt nicht an die heute so genannte „Globalisierung“, wenn er der weißen Bourgeoisie vorwirft, sie habe die Menschheit „auf einen Monolog reduziert“. Universalismus der Menschenrechte? Dazu äußert sich Césaire in einer 1987 gehaltenen Rede. „Wir gehören zu denen, die es ablehnen zu vergessen.“ „Das Universelle ja. Aber es ist eine Ewigkeit her, dass Hegel uns den Weg zu ihm gewiesen hat: das Universelle, gewiss, aber nicht durch Negierung, sondern als Vertiefung unserer Eigentümlichkeit.“ Wenn man Césaire liest, kann man sich über die dreiste Selbstgewissheit nur wundern, mit der dieselben Nationen das Menschenrecht erst blutig schlagen und dann, wenig später, mit Jesusmiene von ihren Opfern einfordern.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden