1989: Hilfreiche Bilder

Zeitgeschichte In der CDU gärt es. Auf dem Parteitag in Bremen soll der Vorsitzende Helmut Kohl gestürzt werden, doch dann beginnt der Exodus aus der DDR, und der Aufstand unterbleibt
Ausgabe 37/2019

Wahrscheinlich hat die deutsche Vereinigung 1990 den damaligen Kanzler Helmut Kohl vor der Abwahl bewahrt. Das war seinerzeit das gut begründete Urteil der SPD wie der Grünen, die zur Regierungsübernahme bereitstanden, bei der Bundestagswahl Ende 1990 aber unterlagen. Bis in den Herbst 1989 hinein war Kohl auch in der eigenen Partei umstritten, ein Mann, mit dem man die Macht nicht nochmals würde verteidigen können. Die CDU hatte zuletzt eine Landtagswahl nach der anderen verloren. Dagegen schien Oskar Lafontaine, der Kanzlerkandidat der SPD, mit seinem ökologisch akzentuierten Regierungsprogramm die Zukunft zu verkörpern.

Diese Zusammenhänge lagen auf der Hand. In der Rückschau tritt aber deutlicher hervor, dass Kohl nicht nur Glück hatte, sondern seine Rettung auch der eigenen Fähigkeit verdankte, auf der Machtklaviatur zu spielen. Die Weichen zur Fortsetzung seiner Kanzlerschaft stellte er im September 1989 auf dem Bremer Parteitag der CDU. Nach dem Szenario seines Generalsekretärs Heiner Geißler hätte er dort als Parteivorsitzender, damit aber auch als Kanzlerkandidat gestürzt und durch Lothar Späth, den über die Parteigrenze hinaus beliebten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, ersetzt werden sollen. War es Glück, dass genau am Tag der Eröffnung des Parteitags, am 11. September, die ungarischen Grenzen geöffnet wurden, sodass die Delegierten bis zum 13. September drei Abende lang Heerscharen glücklicher DDR-Flüchtlinge in der Tagesschau vorgeführt bekamen? Wir werden sehen.

Kohl selbst hatte Geißlers politisches Talent entdeckt. Sie waren Verbündete gewesen, geeint etwa im Projekt der „neuen sozialen Frage“, das Geißler 1975 ausrief, weil – wie er sagte – von den Gewerkschaften nur Beschäftigte geschützt würden. An den damaligen Verhältnissen gemessen bedeutete das eine erste kleine Linksverschiebung der CDU. 1989 wollte Geißler diese Verschiebung noch erweitern – er sprach zum Beispiel lobend von der „multikulturellen Gesellschaft“ –, während man Kohl unterstellte, er jage den Wählern der erstarkenden Rechtspartei der Republikaner nach. Vielleicht kann resümiert werden, dass Geißler bereits die Linie vorschwebte, auf der sich später Angela Merkel bewegte. Wie auch immer, als er vor dem Parteitag bei Kohl erschien, um Akten zu dessen Vorbereitung zu holen, teilte ihm der Kanzler mit, das könne er sich sparen – er sei abgesetzt. Geißler war fassungslos, denn mit einer solchen Härte hatte er nicht gerechnet. Und auch Späth war aus zu weichem Holz geschnitzt; er überlegte hin und her, ob er den Aufstand wagen sollte, zuletzt traute er sich doch nicht. Auf dem Parteitag selbst wischte Kohl beide mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch: Was Geißler angehe, sei das in der Satzung vorgesehene gegenseitige Vertrauen nicht mehr gegeben, sagte er den Delegierten. Um die Talente des wichtigen Mannes aber weiter zu nutzen, müsse die Partei ihn zum Stellvertretenden Vorsitzenden wählen. Das tat sie, und die Folge war, dass Späth diesen Posten verlor.

„Wir haben gemeinsam große Erfolge erlitten“, sagte Kohl über Geißler und löste Heiterkeit aus. Aber dass der keine Chance mehr hatte, war klar. Und nicht nur, weil Kohl sein berühmtes innerparteiliches Netzwerk gepflegt hatte. Sondern viel eher infolge der erhebenden Bilder von der ungarischen Grenze, die er in seiner Rede ausführlich würdigte.

Die Grenzöffnung als solche war sicher nicht Kohls Werk, sondern der innerungarischen Dynamik geschuldet. Schon Anfang 1989 hatte die regierende kommunistische Partei USAP ihre führende Rolle in der Gesellschaft aufgegeben und ein Mehrparteiensystem zugelassen. Miklós Németh, Reformkommunist und neuer ungarischer Ministerpräsident, setzte sofort nach seiner Machtübernahme im März den Abbau der Grenzbefestigungen im Ministerrat durch. Er hatte vorher den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow informiert, der den Schritt ausdrücklich begrüßte. Mit dem Abbau wurde am 2. Mai vor laufenden Kameras begonnen. Solche waren auch zugegen, als am 28. Juni die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, gemeinsam den Stacheldraht zerschnitten. Für die weitere Entwicklung war wichtig, dass zu dieser Zeit schon Tausende in Rumänien eingebürgerte Ungarn in ihr Herkunftsland geflüchtet waren. Um sie nicht nach geltendem Recht an das sozialistische Bruderland ausliefern zu müssen, war Ungarn im Juni der UN-Flüchtlingskonvention beigetreten. Diese galt dann aber auch für alle DDR-Urlauber und sonstigen Ankömmlinge, die sich im Land befanden und zu Flüchtlingen erklärten. Zuerst wurden sie trotzdem noch in die DDR zurücktransportiert. Doch zunehmend erfuhren sie die Sympathie der ungarischen Behörden. Am 23. Juli meldete dpa, der Chef der ungarischen Grenztruppen habe befohlen, die DDR-Behörden bei gescheiterten Fluchtversuchen nicht mehr zu verständigen.

In diesem Monat schwoll die Fluchtwelle so stark an, dass hektische Verhandlungen zwischen Bonn, Ostberlin und Budapest begannen. Dabei versuchten auch Budapest und Bonn zunächst noch, die Welle zu stauen. Die Bundesregierung rechnete noch nicht damit, dass Honeckers Herrschaft so schnell zusammenbrechen würde, und war auch über Gorbatschows Haltung nicht gut informiert. Sie warnte daher öffentlich vor illegalen Grenzüberschreitungen und forderte die ungarischen und österreichischen Behörden auf, keine Flüchtlingszahlen mehr zu veröffentlichen. Die Flüchtlinge ließen sich indes nicht aufhalten. Ende Juli waren bereits 1.600 DDR-Bürger über die Grenze gekommen. 200.000 weitere machten in Ungarn Urlaub, wie würden sie sich verhalten? Das Thema begann die internationale Presse zu beschäftigen. Ungarn richtete Flüchtlingslager ein. Dass die DDR Rückkehrern Straffreiheit versprach, bewirkte wenig. Mitte August sahen Bonn und Budapest die Zeit gekommen, sich offensiv auf die Seite der Flüchtlinge zu stellen. Die Bundesregierung gab an DDR-Bürger in Ungarn Pässe aus, Ungarn steuerte eine vorher angekündigte kurzzeitige Grenzöffnung in Sopron bei, am 19. August aus Anlass eines Pan-Europa-Festes, das von 661 Menschen zur Flucht genutzt wurde. Am 24. August ließ Ungarn erstmals 108 Botschaftsflüchtlinge ohne DDR-Reisepapiere nach Österreich ausreisen.

Eine vollständige Grenzöffnung hatte die ungarische Regierung intern schon am 10. August beschlossen. Nach Angaben der Beteiligten wurde dies Kohl, der Urlaub am Wolfgangsee machte, in einem Telefongespräch mitgeteilt. Beschlossen wurde ein geheimes Treffen auf Schloss Gymnich in Nordrhein-Westfalen am 25. August, an dem nur die Regierungschefs und Außenminister der BRD und Ungarns teilnehmen sollten. Dort kündigte Premier Németh die Grenzöffnung für den 4. September an, während Kohl Kredite in Höhe von einer Milliarde DM versprach. In Ostberlin wurde kommentiert, Kohl habe Ungarn die Grenzöffnung abgekauft, was dieser natürlich bestritt. In unserem Zusammenhang interessiert aber noch ein anderer möglicher Bestandteil der Gymnicher Vereinbarung: Ungarn verschob die Grenzöffnung auf den 11. September, um, laut Außenminister Horn, der DDR Zeit zu geben. Am 11. September begann aber, wie wir wissen, der CDU-Parteitag. War das im Kaufpreis inbegriffen? Jedenfalls erklärte Horn am 10. September abends im Fernsehen, vom morgigen Tag an dürften DDR-Bürger auch ohne Genehmigung der DDR ausreisen. Am 11. und 12. September ergriffen bereits 12.500 DDR-Bürger die Gelegenheit. Günstige Bilder für Kohl.

In der DDR selbst begann der offene Widerstand. Am 25. September kam es zu einer Demonstration von gut 6.000 Menschen nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Zugleich begannen sich der „Demokratische Aufbruch“, das „Neue Forum“ und andere Oppositionsgruppen zu formieren.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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