1998: Für den Ernstfall

Zeitgeschichte Bei einer Übung in den USA wird ein Angriff mit Pockenviren simuliert, gegen die ein Impfstoff fehlt. Bis 2019 folgen noch sieben Manöver, die auch Pandemien durchspielen
Ausgabe 01/2021
Biowaffen oder Seuche? So groß ist der Unterschied gar nicht
Biowaffen oder Seuche? So groß ist der Unterschied gar nicht

Foto: Joe Raedle/Getty Images

Aus heiterem Himmel ist die Corona-Pandemie über uns gekommen. Aber es ist auch wahr, dass die internationale Politik, angeführt von den USA, sich über mehr als 20 Jahre darauf vorbereitet hat. In seinem Buch Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte (Westend 2020) hat der Sachbuchautor Paul Schreyer die Kette der Manöver, die es seit 1998 dazu gegeben hat und deren letztes zwei Monate vor dem Corona-Ausbruch stattfand, minutiös rekonstruiert. Was geschah, war niemals geheim, nur hat sich kaum jemand, außer den Regierungen, dafür interessiert. Gelegentlich konnte man in der FAZ oder Zeit davon lesen – und hat es dann wieder vergessen.

Zuerst waren es die USA, die sich Sorgen machten. Und sie hatten Grund dazu, denn auf sie konzentrierte sich gleich nach 1990 der islamistische Terror, den sie selbst im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion – man denke an Afghanistan – herangezüchtet hatten. Ja, worauf sie sich vorbereiteten, war zunächst kein neuartiges Virus, das sich mit herkömmlichen Impfstoffen nicht bekämpfen ließ, sondern ein Angriff mit Biowaffen. Aber das ist kein anderes Thema, da die Militärfachleute für Biowaffen zugleich auch die besten Spezialisten für gefährliche Viren waren und sind. Der Zusammenhang wird offenbar, erinnert man sich nur der Gründung der neuen Abteilung „Gesundheitssicherheit“ im Bundesgesundheitsministerium. Ende 2019 geplant, wurde sie Anfang 2020 ins Leben gerufen und von Bundeswehrgeneral Hans-Ulrich Holtherm geführt, der zuvor im Rahmen der NATO für infektiöse Krankheitsausbrüche zuständig gewesen war: In seiner Offiziersuniform ist er heute Teil des Corona-Krisenstabs.

Nachdem die USA zwei schwere Terrorangriffe erlitten hatten – einen ersten auf die Twin Towers in New York im Februar 1993, dann den Bombenanschlag auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City im April 1995, bei dem es 168 Tote und 700 Verletzte gab –, war noch im selben Jahr in einem Strategiepapier zu lesen: Das Potenzial von Biowaffen, „schwere wirtschaftliche Verluste und in der Folge politische Instabilität auszulösen, verbunden mit der Möglichkeit, den Einsatz glaubwürdig abstreiten zu können, übertrifft die Möglichkeiten jeder anderen bekannten Waffe“. Der Autor, Robert Kadlec, früherer Biowaffeninspekteur des US-Militärs im Irak, wurde in der Corona-Pandemie einer der leitenden Krisenmanager der US-Regierung. 1997 äußerten sich ein Ex-Chef der CIA und ein Ex-Staatssekretär im Pentagon in einem Zeitungsartikel: Wenn bei den Anschlägen 1993 und 1995 nukleare, biologische oder chemische Stoffe im Spiel gewesen wären, hätte alles noch viel schlimmer ausgehen können; dass dies aber „in der Zukunft der Fall sein wird, halten wir für immer wahrscheinlicher, nachdem wir ein Jahr lang für die Regierung eine Untersuchung geleitet haben“.

1998 fand das erste Manöver statt, an dem sich 40 Vertreter von US-Behörden beteiligten. Es sollte die Frage beantworten, was die Regierung tun könne, wenn modifizierte Pockenviren, die sich mit herkömmlichen Impfstoffen nicht bekämpfen ließen, von Terroristen ausgesetzt würden. Sie wäre hilflos, war das in der Öffentlichkeit diskutierte Fazit. Im selben Jahr noch wurde das Center for Civilian Biodefense Studies an der Johns-Hopkins-Universität gegründet, das alle folgenden Manöver veranstaltete, sieben an der Zahl zwischen 1999 und 2019.

Schon das erste war international besetzt und kreiste um die Probleme, die in den folgenden zwei Jahrzehnten bestimmend blieben: „Wie weit kann die Polizei gehen, um Patienten in Quarantäne zu halten?“, fragte der Auswertungsbericht, und wie soll die „über die Medien gehende Botschaft“ kontrolliert werden? 2000, im zweiten Manöver, wurde wiederum ein Angriff von Terroristen unterstellt, aber man konzentrierte sich mehr auf die Epidemie als solche. Eine leitende Beamtin im Gesundheitsministerium schlug Reisebeschränkungen vor, Verbote für öffentliche Versammlungen und die Empfehlung, nicht erkrankte Menschen sollten zu Hause bleiben, „aber ich würde nicht versuchen“, sagte sie, „eine echte Quarantäne im klassischen Sinne zu verhängen“. Worum es den Veranstaltern ging, war deutlich: Es handelte sich einerseits um Manöver im klassischen Sinn, erstens weil ein Krieg geprobt wurde, der „Krieg gegen den Terror“, wie ihn Präsident George W. Bush nach 9/11 proklamieren würde, und zweitens weil Schwachstellen der Abwehr aufgespürt und rechtzeitig entfernt werden sollten. Andererseits hatte man es in diesem Fall nicht mit Soldaten zu tun, sondern mit parlamentarisch verfassten Gesellschaften, deren Bevölkerung man nicht auf dem simplen Befehlsweg disziplinieren konnte. Oder nicht wollte: Das gewünschte und notwendige Verhalten sollte ohne Abschaffung der vorhandenen Demokratie erreicht werden. So gestellt war das eine neuartige und natürlich begrüßenswerte Problemfrage.

Bei den folgenden Manövern wurde sie immer mehr ausgeleuchtet. So hielt man die Übung im September 2003 in verschiedenen Ländern gleichzeitig ab, den G7-Staaten plus Mexiko, um die internationale Synchronisation zu prüfen. Es ergab sich, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO eine zentrale Rolle spielen musste. Eine enge Koordination der Aktivitäten derselben Staatengruppe war bereits einen Monat nach dem Fall der Twin Towers im September 2001 verabredet worden. Und schon bei der Übung 2002 wurde herausgestellt, dass es für die Notfallplanung rein technisch gesehen eigentlich egal war, ob sie einem Terrorangriff oder einer natürlich ausgebrochenen Pandemie zu begegnen hatte. Die wichtige Bedeutung der WHO schlug sich im Manöver 2005 darin nieder, dass Gro Harlem Brundtland deren Chefin spielte; sie war es kurz zuvor im realen Leben gewesen.

Zwischen 2005 und 2018 gab es keine Manöver. Der Grund mag darin liegen, dass 2005 auch das Jahr der Vogelgrippe war und sich da die Gefahr zeigte, dass die Regierungen ihren Erwartungen auch zum Opfer fallen konnten. So hatte US-Präsident Bush über sieben Milliarden Dollar Notfallunterstützung, überwiegend für Impfstoffe, ihretwegen beantragt. Am Ende stellte sich heraus, dass weltweit nur 122 Menschen an der Grippe starben.

Als aber ein Jahrzehnt später der Islamische Staat (IS) sich ausbreitete und ihm viele Anschläge gelangen, wie der Angriff auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, nahm man die Manöver wieder auf. Der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt geschah am 19. Dezember 2016, fünf Monate später begann das Center an der Johns-Hopkins-Universität – es hieß inzwischen Center for Health Security – mit den Vorbereitungen des Manövers vom 15. Mai 2018, bei dem ein Angriff christlicher Terroristen unterstellt wurde, die mit ihrer Biowaffe die Übervölkerung der Erde bekämpfen wollten. Anfang 2017 hatten auch die Planungen für einen Impfstoff begonnen, der sich in wenigen Monaten statt – wie bis dahin üblich – in einem Jahrzehnt entwickeln ließ.

Das vorerst letzte Manöver im Oktober 2019 simulierte ein „von Fledermäusen erst auf Schweine“ übertragenes, dann aber auch „von Mensch zu Mensch“ übertragbares „neuartiges zoonotisches Coronavirus“. Alles läuft genauso ab wie anschließend in der Realität, zum Beispiel gibt es im ersten Jahr keinen Impfstoff. Es sei wichtig, so der Abschlussbericht, „die Medien mit schnellen, genauen und konsistenten Informationen zu überfluten“. An der Übung sind diesmal Führungskräfte globaler Konzerne beteiligt, die sich selbst spielen. Auch der Direktor der chinesischen Seuchenschutzbehörde ist anwesend. Als die Corona-Pandemie zwei Monate später ausbricht, sind die Regierungen optimal vorbereitet. Und falls es wirklich einmal zu einem Biowaffenangriff von Terroristen kommen sollte, kann man auch sagen, dass die Bevölkerungen nun wissen, wie sie sich dann zu verhalten haben. Für den Westen als Kultur sind es düstere Aussichten.

Eine ausführlichere Fassung finden Sie hier

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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