Achse des Lebens

Literatur Jürgen Habermas greift in seiner Kritik an einer nihilistischen Wissenschaft auf ein altes Rezept zurück
Ausgabe 17/2020
Seit Konfuzius, den jüdischen Propheten, Sokrates und Buddha versetzen sich Philosophen an einen Ort, von dem aus sie die Welt als Ganzes erfassen können
Seit Konfuzius, den jüdischen Propheten, Sokrates und Buddha versetzen sich Philosophen an einen Ort, von dem aus sie die Welt als Ganzes erfassen können

Foto [M.]: Zuma Press/Imago Images

Zunächst mögen manche die Thematik für ein bloßes Steckenpferd des Autors halten. Brauchen wir wirklich diese Philosophiegeschichte von Jürgen Habermas, die sich ankündigt als Untersuchung der „okzidentalen Konstellation von Glauben und Wissen“? In vergleichbaren Büchern spielt die Religion keine so große Rolle, schon weil Philosophie als ihr Gegenteil gilt. Habermas hat eine andere Perspektive. Ohne selbst religiös zu sein, meint er, die Religion habe Erkenntnisgehalte erschlossen, die vielleicht noch immer nicht vollständig ins säkulare Denken übersetzt seien. Das ist ihm evident, weil er nicht aufhören will zu fragen, wie wir zu uns selbst stehen. Dieses Thema war ein religiöses gewesen, während die neuzeitliche Naturwissenschaft, um objektiv zu sein, von der Subjektivität ihrer Träger abstrahieren musste. Habermas sieht das ein, ist aber dennoch alarmiert, fürchtet die Überspitzung: „Das fiktive Nirgendwo“, schreibt er, „von wo aus jeder Wissenschaftler die Phänomene im Gegenstandsbereich seiner Disziplin betrachten muss“, sei zwar eine notwendige Unterstellung, der „Szientismus“ vergesse aber die Verankerung der Wissenschaft „im sozialen Raum und in der historischen Zeit“ – in der „Lebenswelt“, wie er kurz sagt –; nur als so „situierter Geist“ könne sie „die Welt im Ganzen konzipieren“.

Yuval Hararis Abhängigkeit

Von dieser Passage an, die sich auf Seite 472 des ersten Bandes findet, wundert sich der Leser nicht mehr darüber, dass Habermas’ Philosophiegeschichte mit der Erörterung der „Achsenzeit“, so nennt man mit Karl Jaspers (1883 – 1969) die Jahrhunderte, in denen Konfuzius und die jüdischen Propheten, Sokrates und Buddha auftraten, einen ersten Höhepunkt erreicht. Denn wie er vorher dargestellt hat, wurde genau damals zum ersten Mal die „Welt im Ganzen“ von einem Ort aus konzipiert, der zu ihr nicht gehörte. Ob es ein Monogott war wie bei den jüdischen Propheten oder ein kosmisches Prinzip, von dem her die Welt Einheit und Moralität erhielt – wie wenn Konfuzius fordert, es gelte „den Angelpunkt zu finden, der unser sittliches Wesen mit der allumfassenden Ordnung, der zentralen Harmonie vereint“ –, gleichviel: Die moderne Wissenschaft konnte beides nicht übernehmen, kann auch mit den „Ideen“ Platons, des Sokrates-Schülers, nicht mehr arbeiten und verdankt doch, wie es scheint, ihren „view from nowhere“ letztendlich der Achsenzeit.

Habermas rekonstruiert den Weg, der vom einen zum andern führte: Die christlichen Kirchenväter artikulierten sich, so weit es ging, in der Sprache der griechischen Philosophen, die Scholastiker fragten, wie sich beide Traditionen vereinbaren ließen; infolge der Spannung, in der sie zueinander standen, begannen sich Glauben und Wissen seit dem Ende des Mittelalters voneinander zu trennen. Zuerst geschieht das in der Art, wie Wilhelm von Ockham die Lehre seines älteren Franziskaner-Bruders Johannes Duns Scotus aufnimmt und uminterpretiert. Jahrhunderte später bezieht sich Immanuel Kant kritisch auf David Hume, um von der Religion noch etwas zu retten. Hier spätestens begreift der Leser die Aktualität dieser Erörterung, denn ohne dass der Name des israelischen Historikers fällt, der uns die Geschichte der Menschheit als beständigen Übergang von einer Illusion zur nächsten erklärt, liest man Yuval Hararis intellektuelle Abhängigkeit von Hume zwischen den Zeilen mit, sieht auch die Flachheit einer solchen Hume-Lektüre. Im letzten Schritt geht es um Hegel und die Junghegelianer, zu denen Habermas nicht nur Feuerbach und Marx, sondern, etwas gewaltsam, auch den US-Amerikaner Charles S. Peirce rechnet. Peirce hat den philosophischen „Pragmatismus“ begründet, den Habermas selbst inzwischen vertritt.

Wo er sich über Marx äußert, wird ein Zusammenhang dieser Philosophiegeschichte, seines zweiten Hauptwerks, mit dem ersten sichtbar, der Theorie des kommunikativen Handelns von 1981. Er schreibt nämlich über Marx’ Mehrwerttheorie, mit ihr habe sich der Autor von Das Kapital „in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf die Einstellung des Beobachters gegenüber einer systemisch verselbstständigten kapitalistischen Entwicklung“ beschränkt. Dass „das Systemische“ – Macht und (kapitalistisches) Geld – für moderne Gesellschaften konstitutiv und nicht mehr veränderbar sei, war die Pointe des ersten Hauptwerks gewesen; jetzt im zweiten lesen wir also, Marx selbst habe die Endgültigkeit des Systemischen unfreiwillig herausarbeiten müssen, weil die Wissenschaft nun einmal jedermann nötige, und so auch ihn, die „Einstellung des Beobachters“ zu übernehmen – jenen letztendlich von der Achsenzeit herrührenden „view from nowhere“. Ja, das passt zusammen: Wer aus dem Nichts blickt, welches Interesse soll der haben, am System zu rütteln? Und auch Habermas, mag er den „view from nowhere“ nur zähneknirschend hinnehmen, hat kein anderes Mittel der Gegenwehr als sein altes, die „Lebenswelt“. Diese sei davor zu schützen, vom Systemischen „kolonisiert“ zu werden, schrieb er vor vier Jahrzehnten; jetzt heißt es, sie sei als Anker des wissenschaftlichen Blicks im Gedächtnis zu halten.

Im Abseits

Wenn das alles wäre, es wäre nicht viel. Das Aufregende dieser Philosophiegeschichte habe ich aber noch nicht benannt, es liegt darin, dass Habermas Feuerbachs Religionskritik, mit der auch Marx’ intellektuelle Entwicklung begann, auf jene Achsenzeit anwendet. Er stellt fest: Wenn damals ein Außen postuliert wurde, das der „Welt im Ganzen“ gleichsam gegenübertrat, so habe sich dort natürlich kein metaphysisches Ordnungsprinzip aufgehalten, oder gar ein Gott, sondern der Mensch selber. Er rekonstruiert: In der Entwicklung der Alten Reiche (China, Indien, Mesopotamien, Israel und Griechenland als Ränder mesopotamischer Reiche) war es zu sozialen Verwerfungen gekommen, die einige Intellektuelle so schockierend fanden, dass sie sich vor die Frage gestellt sahen, was es mit der Menschheit eigentlich auf sich habe – warum es sie und ihre Welt überhaupt gab! Mit dieser Frage hatten sie sich ins Außen gestellt. Interesselos waren sie durchaus nicht, nahmen vielmehr wahr, dass die tradierten Sitten, die sich auf sakrale Riten gestützt hatten, nicht mehr befolgt wurden, und setzten eine neue Moral dagegen, die sich von der Abstraktheit des Außen herleiten sollte.

In dieser Perspektive wird die Distanz zwischen Sokrates und den jüdischen Propheten verblüffend klein. Jesaja zum Beispiel klagt immer wieder, dass den „Witwen und Waisen“ nicht geholfen werde. Wer, statt das zu tun, nur am Opferritual teilnehme, sei ein böser Heuchler. Es gehe vielmehr darum, Gott, das heißt der von ihm gesetzten Moral, zu gehorchen. Die Rituale werden dennoch nicht verworfen, so weit wagen die Reformer nicht zu gehen. Auch Sokrates opfert einen Hahn, bevor er den tötenden Schierlingsbecher trinkt, zu dem ihn die Athener Volksversammlung wegen seiner Religions- und Sittenlosigkeit verurteilt hat. Er ist allerdings radikaler als die Propheten, denn er behauptet nicht mehr, über eine Moraltheorie überhaupt zu verfügen; er beschränkt sich darauf, seine Dialogpartner nach ihrer Moral zu fragen und ihnen zu zeigen, dass sie keine haben. Haben all diese Intellektuellen in einem Nichts gestanden? Nein, sie sahen von sich als Individuen ab, um als Menschen – in solcher Abstraktheit – nach dem Menschen fragen zu können. Und das hat auch Marx getan. Marx bringt es auf den Begriff: Wir befinden uns, schreibt er ja, erst in der Vorgeschichte der Menschheit.

Man muss es unbefriedigend finden, dass Habermas den Eindruck erweckt, der für uns Heutige so wichtige wie fatale „view from nowhere“ rühre von der Achsenzeit her. Und ist es denn wahr, dass „die Wissenschaftler“ ihn pflegen? Aber dass sich die Achsenzeit, unabsichtlich vielleicht, bei ihm als bisher bedeutendster intellektueller Einschnitt der Menschheitsgeschichte darstellt, ist eine große Öffnung des Denkens. Was Hannah Arendt über Marx schrieb, trifft auch auf Habermas zu: Es adelt die größten intellektuellen Leistungen, dass in ihr Zentrum ein unverhüllter innerer Widerspruch führt.

Michael Jäger untersucht diesen Widerspruch bei Habermas auf freitag.de in einer vierteiligen Serie. Hier geht es zu Teil 1

Info

Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bände Jürgen Habermas Suhrkamp 2019, 1.752 S., 98 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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