Der unbekannte Mensch

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Gestern Abend habe ich noch einmal ein Konzert mit elektronischer Musik besucht, Werke von Georg Friedrich Haas ("für Kammerensemble und Elektronik", 2008), Klaus Ospald ("für Kammerensemble und Live-Elektronik", 2007/08) und Klaus Huber ("für Kontrabass und 18 Instrumente mit Live-Elektronik", 1977/2010) wurden gegeben. Ausführende waren das Collegium Novum Zürich und das Experimentalstudio des Südwestrundfunks. Ich will hier nur einige Sätze zitieren, in denen die Komponisten ihren Ansatz zu erläutern versuchen, vor dem Hintergrund, dass ich gestern selbst über den "Sinn" elektronischer Musik spekuliert hatte - vor dem Konzert. Ehrenwort, die Sätze der Komponisten las ich erst gestern Nacht. Mir scheint, dass sie meine Spekulation bestätigen. Elektronischer Klang, hatte ich geschrieben, scheint der Klang des Möglichen zu sein. Und zwar nicht der möglichen utopischen Antwort, die man zu erahnen und jetzt schon sich vorzustellen versucht, sondern des Möglichkeitsraums der Frage, die zu einer solchen Antwort erst auf dem Weg ist. Dieser Raum, in dem viele mögliche Antworten zur Auswahl bereitliegen, ist der elektronische Frageraum.

Georg Friedrich Haas beschreibt sein Stück, dem er den Titel ... und ... gegeben hat, wie folgt: "Die Elektronik hat einerseits ihre ihr eigene klangliche und ästhetische Qualität. Andererseits erfüllt sie aber die Funktion, den SpielerInnen des Ensembles Tonhöhen in exakter mikrotonaler Intonation vorzugeben. Die Instrumente orientieren sich an den Tonhöhen der Elektronik, reagieren darauf, zuletzt befreien sie sich." Sie reagieren darauf, das heißt sie antworten. Sie befreien sich sogar: wie man sich von einer Frage befreien kann, indem man sie zurückweist. Denn nicht nur solche Antworten sind möglich, die man erwartet, wenn man sich eine Frage zueigen macht, sondern auch solche, die sie zurückweisen.

Klaus Ospald hat sein Stück Cosi dell' uomo ignara... genannt: "So also, ohne den Menschen zu kennen", er zitiert ein Gedicht von Giacomo Leopardi. "Ein ferner Schein, der die Schatten / durchbricht und in weiterem Runde die Trümmer rötet. / So also, ohne den Menschen zu kennen, die Zeiten, / die er Altertum nennt, die Geschlechterfolge / der Ahnen und der Erben, / bleibt die Natur immer jung." Der Mensch in der Utopie, der Fülle der Zeiten, man kennt ihn noch nicht. Aber man fragt nach ihm.

Zur Musik schreibt Ospald: "Hier berührte sich das Kompositionsverfahren mit den Inhalten des Gedichts: Der Spieler löst einen musikalischen Prozeß aus, der sich ihm durch die Klangumwandlung der Live-Elektronik entzieht, gleichzeitig taucht er in die Prozesse ein und verwandelt sie so wieder zu sich hin." Das kann man auch so formulieren: Die Elektronik macht aus der Antwort, die der Spieler mit seinem Instrument gegeben hat, eine neue Frage und "entzieht" sie ihm dadurch. Denn es ist nun klar, dass es zwar eine Antwort, aber nicht die letzte Antwort gewesen ist. Doch bleibt es nicht beim Entzug, keine "Seinsverlassenheit" wird hier behauptet. Sondern der Spieler vermag die ihm neue, obwohl von seiner eigenen Antwort hervorgerufene Frage selbst wieder zu beantworten, "sich wieder zu sich hin zu verwandeln". Dazu ist nur nötig, dass er sich die neue Frage zueigen macht, "in die Prozesse eintaucht", statt nur enttäuscht darüber zu sein, dass nicht schon seine vorige Antwort die letztgültige war. Auch die Antwort, zu der er jetzt auf dem Weg ist, wird es noch nicht sein.

Kunst und Politik

Ich zitiere die zweite Hälfte des Gedichts von Leopardi: "bleibt die Natur immer jung. Sie bewegt sich zwar, / aber so langsamen Schrittes, / als stehe sie still. Reiche gehen zugrunde, / Völker und Sprachen verschwinden: sie nimmt es nicht wahr. / Der Mensch aber prahlt, mit der Ewigkeit sei er im Bunde." Wäre nicht in der ersten Zeile des Gedichts vom "fernen Schein, der die Schatten durchbricht und in weitem Runde die Trümmer rötet", die Rede gewesen, könnte man glauben, hier sei von einer zwar beweglichen, aber in den Abläufen immer gleichen Natur die Rede, der Natur der Physik. Es geht aber vielmehr um den Vorschein der Natur der Zukunft, die noch fern ist, und um alles, was auf sie hinausläuft. Ergänzend muss man sich klar machen, dass viele Dinge, die uns heute bedrängen, keineswegs auf die Zukunft hinauslaufen, sondern auf dem Weg dahin verschwinden werden, während auf andere, unscheinbare, schon heute ihr "ferner Schein" fällt. Dieser zum Ende führende Weg, den wir als solchen nicht fassen können, obwohl wir ihn gehen, ist die "Ewigkeit". Von dieser Natur ist die Rede; wenn der Dichter sie "jung" nennt, dann weil er sie sich nicht ausreden läßt. "Sie nimmt es nicht wahr": Der Dichter hofft, dass es ihr nichts anhaben kann, wenn Reiche zugrunde gehen.

Etwas können wir aber doch fassen, gerade wenn wir moderne Musik hören, nämlich dass es nicht lineare Zeit ist, die zur Utopie führt. Die Entwicklung ist vielmehr so, dass Zustände, ganze Ereignisfelder aufeinander folgen. Deshalb geht sie "langsamen Schrittes": Zustände ändern sich nicht so schnell wie Punkte. In unserm gewöhnlichen Zeitgefühl nehmen wir meistens nur Punkte wahr und reihen sie linear aneinander. Da folgt dann zum Beispiel auf einen CDU-Kanzler ein SPD-Kanzler, auf den wieder ein CDU-Kanzler und so immer weiter, und wir glauben, da laufe Zeit ab; der Zustand bleibt aber derselbe. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir am Zustand ansetzen, nicht an den Punkten allein.

Wie stellt sich das in der Perspektive moderner Musik dar? So, dass sie den letzten, utopischen Gesamtzustand simuliert, von dem sie doch wenigstens die Form zu kennen glaubt: dass es die "Assoziation freier Individuen" sein wird, oder platonisch abstrakt formuliert, die harmonische Einheit des Vielen. Könnte man Utopie nach Form und Inhalt hören, man hörte Individuen / Teile, die nicht abhängig voneinander sind und doch zusammenpassen und -wirken. Das heißt, es würden Klangfelder aufeinander folgen, von denen zwar jedes mit allen im Bunde steht, keines aber sich aus anderen entwickelt. Denn sie haben ja schon alle ihren Endzustand erreicht, sind zur Konstellation, zum Sternbild geworden (Walter Benjamin). Dass dennoch eins aufs andere folgen würde, läge nur daran, dass die Wiedergabe im Medium der Musik, die nun einmal zeitliche Abläufe gestaltet, erfolgte. Der Ablauf solcher Musik wäre nicht anders, als wenn ich die verschiedenen Teile eines Gebäudes nacheinander in mein Augenfeld treten lasse.

Wenn moderne Musik antwortet und fragt, indem sie zum Beispiel auch Elektronik einsetzt, dann mit dem Ziel, diese utopische Musik simulieren zu können. Zwei Abstriche muss sie notgedrungen machen. Einmal kann sie nur die Form der Utopie zu kennen glauben. Sie kann nur versuchen, eine möglichst stimmige Einheit vieler Teile (Klangfelder) hörbar werden zu lassen. Was den utopischen Inhalt angeht, muss sie weithin "abstrakt" bleiben. Zum andern muss sie zur Sprache bringen, dass die Utopie nicht schon da ist. Man darf sie nicht hören können, als gelte ihr schon die vorhandene Gesellschaft für harmonische Einheit des Vielen. Deshalb muss etwas an der formalen utopischen Vision zerbrochen sein. Moderne Musik steht vor der Herausforderung, das Visionäre und die Bruchstellen selbst wieder zu vereinen; wenn es gelingt, ist es gleichsam eine Momentaufnahme der Ewigkeit.

Das gibt uns ihr ungewohnter Zeitlauf zu hören. Er stellt nicht einen Teilausschnitt unseres Weges zum utopischen Ende dar, wie noch bei Beethoven. Denn da wir das Ende nicht kennen - "so also, ohne den Menschen zu kennen" -, können wir auch nicht wissen, in welcher Hinsicht wir auf dem Weg zum Ende sind und in welcher auf dem Irrweg. Das heißt ja nicht, dass wir nicht auf Vermutungen über den richtigen Weg angewiesen wären. Von denen hängt im Gegenteil alles ab. Aber solche Vermutungen sind Politik, nicht Kunst. Die Kunst maßt sich heute nicht mehr an, den Weg zu kennen. Der Politik reibt sie unter die Nase, dass deren Vermutung zwar notwendig, aber eben nur Vermutung ist.

Wenn man dies alles von Adornos Ästhetischer Theorie gelernt hat, der es in etwas anderen Worten sagt als ich, kann man mit Gefühl und Verstand moderne Musik hören. Man ist nicht mehr fassungslos, wenn gar keine Zeit zu vergehen scheint, obwohl die verschiedensten Klangzustände einander ablösen, und auch nicht, wenn die Klangzustände unzusammenhängend erscheinen. Denn sie hängen sehr wohl zusammen, es ist nur kein Kausalzusammenhang, sondern der einer harmonischen Bildkomposition, wobei die Harmonie des Bildes teils noch in Trümmern liegt. An der Ewigkeit gemessen, folgt nämlich nicht die Zertrümmerung des harmonischen Gebildes auf dessen Bau, sondern umgekehrt. Die Komposition, die wir hören, tastet mit Augen das rissige Ewigkeitsbild ab, und statt fassungslos zu sein, folgen wir der Bewegung des Tastens.

*

Drei Veranstaltungen des Festivals werde ich noch besuchen und über sie schreiben: Das Musiktheater Wüstenbuch von Beat Furrer in Christoph Marthalers Inszenierung am Samstag Abend (zwei weitere Aufführungen: Sonntag 15 und 20 Uhr), Et Ecce Terrae Motus - Es bebte die Erde, eine "utopische Musik im Angesicht des Untergangs" von Antoine Brumel und Clemens Goldberg am Sonntag Vormittag (weitere Aufführung: Samstag 22 Uhr) und Rithaa - Ein Jenseitsreigen, "arabische Klanggesänge und Trauerrituale" von Mela Maierhans am Sonntag Abend (öffentliche Generalprobe Samstag 18 Uhr, weitere Aufführung Montag 20 Uhr). Da ich heute anderweitig beschäftigt bin und am Montag einen Text zum Festival für unsere Printausgabe schreibe, folgt mein letzter Blog-Eintrag, oder vielleicht werden es zwei Einträge, erst am Dienstag oder Mittwoch oder an beiden Tagen.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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