Es ist schon verständlich, dass die Oppositionsparteien den Rücktritt des Bundesverkehrsministers gefordert haben. Wolfgang Tiefensees Kritik an den "Bonuszahlungen" der Deutschen Bahn kam reichlich spät, und er wusste vielleicht früher von ihnen, als er zugibt. Aber man wundert sich doch, wenn man sieht, wie alle über den Minister herfallen, während die Bahn unbehelligt bleibt. Der Aufsichtsrat hatte im Juni beschlossen, sich beim Börsengang einen kräftigen Schluck aus der Profitflasche zu genehmigen. Bahnchef Mehdorn zum Beispiel will sich 1,4 Millionen Euro schenken. Tiefensees Staatssekretär Matthias von Randow hatte zugestimmt. Nun hat der Minister den Skandal zwar erst nach dem Ausbruch der Finanzkrise als solchen empfunden. Aber spät ist doch besser als gar nicht. Man mag seinen Rücktritt bejahen, aber warum richtet sich nicht die vierfache Wut gegen Mehdorn? Der konnte es sich nach einer Woche Zuwarten sogar leisten, den Chor der Tiefensee-Kritiker zu verstärken; Vergütungsangelegenheiten gehörten doch nicht in die Öffentlichkeit, jammerte er. So läuft das bei einem Machtgefälle: Man scheut sich, den Mächtigen anzugreifen, und findet ein Ersatzopfer.
Ersatzopfer
Geschrieben von
Michael Jäger
Redakteur (FM)
studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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