Rainer Werner Fassbinder war erst 37, als er 1982 starb, hatte aber bis dahin über 40 Spielfilme, 24 Theaterstücke und anderes produziert – fast könnte man ihn mit Mozart vergleichen, der auch nur 35 Jahre alt wurde und dessen Werkliste, das „Köchel-Verzeichnis“, 626 nummerierte Kompositionen enthält. Das Buch des britischen Musikjournalisten Ian Penman über ihn und den „RWF-Mythos“ ist eine Sammlung kleiner leidenschaftlicher Notizen. Schon früher habe er es schreiben wollen, erklärt er auf den ersten Seiten, und schon damals so, „wie Fassbinder selbst gearbeitet hat: sofort anfangen, einfach losmachen“. „Ausschweifend, unkonventionell, flammend. Ganz und gar einseitig. Scheiß auf die Dialektik!
!“In diesem Ton schreibt er durchgängig. Und wie er dann von Fassbinder erzählt, dass dessen Filme streng durchgeformt sind, obwohl sie uns derart ins wilde, zugleich trostlose Leben hineinreißen, dass wir es kaum ertragen. So ist auch sein Buch, bei aller Wildheit, zugleich ein Schatz des Wissens über die Kunst- und Literaturszene des Nach-68er-Jahrzehnts, in dem Fassbinder zu den Hauptvertretern des Neuen Deutschen Films zählte.Und Penman hat Poesie. Zum Beispiel fällt ihm, weil Fassbinder vor allem die zu seiner Zeit jüngste Vergangenheit vorführt – das Wirtschaftswunderjahrzehnt, davor das NS-Jahrzehnt –, Walter Benjamins Aufsatz Über den Begriff der Geschichte ein; er schreibt: „Das Stotternde von Benjamins Prosa, als würde sich jemand einen Weg durch eine Menge suchen. Rösselsprungartige Assoziationen. Ein verdrehtes inneres Metronom, als würde Thelonious Monk die Fußnoten prüfen. Eine Ampel, die viel zu lange auf Gelb steht.“Thelonious Monk war ein Jazzpianist, der den Bebop mitbegründete. Ampel ständig auf Gelb, das kann man heute in Deutschland nicht lesen, ohne an die FDP zu denken, und es passt sogar in gewisser Weise. Denn bei aller schönen Wildheit des Schreibstils verfolgt Penman doch eine durchgängige These, die man, mit umgekehrten Vorzeichen freilich, auf die Lindner-Truppe, die Blockadepartei übertragen könnte. „War RWF genau das“, schreibt er nämlich, „– eine Art überraschende Verbindungslinie oder ein missing link zwischen einer Ära und der nächsten?“ So könnte man sich ja fragen, ob die FDP eine sterbende Epoche auf keinen Fall vergehen lassen will.Aber Fassbinder, der auch die ersten 26 Minuten von Deutschland im Herbst (1978) gedreht hat, ist das Gegenteil eines Spießbürgers. Auch wenn Penman es nicht direkt schreibt, begreife ich, dass Fassbinder an einem 68er-Blick aufs Leben festhielt, als es längst nicht mehr möglich war. Deshalb sein Lebensstil, den Penman immer wieder evoziert: harte Drogen, Fettwerden und Verwahrlosung als Protest gegen gefällige Rollenspiele und zugleich der Wunsch, geliebt zu werden, nicht nur in der schwulen Szene, sondern überhaupt, ohne selbst liebenswert sein zu wollen. Wenn man so lebt, nur um zu leben, aber auch um anderen zu zeigen, in Filmen, was Leben ist, lebt man nicht lange.Verschüttete ErinnerungenBei Youtube ist zum Beispiel die erste Folge von Berlin Alexanderplatz (1980) verfügbar, nach dem Roman (1929) von Alfred Döblin. Mit Mühe habe ich die ersten drei Szenen durch- und ausgehalten. Wie Franz Biberkopf aus dem Gefängnis entlassen wird: So ein verletzbares Gesicht, das unterläuft keinem mehr in unserer Zeit, wo sie uns mit Sprüchen wie „Ich bin doch nicht blöd“ zum Einkauf einladen. Da merkt man, dass die Erinnerung an 68 ganz verschüttet ist.Wenn ich damals nicht Tagebuch geführt hätte, wüsste ich nicht mehr, dass es damals zwei Sorten von jungen Menschen gab, die einen, die ohne doppelten Boden Liebe suchten und im Scheitern vielleicht ihr Leben mitrissen, und die anderen, die miteinander den ersten Beischlaf planten und vorher noch die bisherigen Intimfreunde oder -freundinnen verabschiedeten, ähnlich wie in Arabella (1933), der Oper von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal.Placeholder infobox-1