Gesprächsstoff

Kommentar Sind Kapitalisten Heuschrecken?

Nach Fischers Vernehmung im Visa-Ausschuss vermittelt nun auch die rot-grüne Debatte über Münteferings "Kapitalismus-Kritik" den Eindruck, dass in diesem Land keine vernünftigen Worte mehr gewechselt werden; wie es scheint, wäre das auch ganz sinnlos, weil man irgendwelchen Äußerungen ohnehin nur zuhört, um beliebige Phantasien daran zu knüpfen. Keineswegs hatte Müntefering den Kapitalismus kritisiert, sondern nur sozial gewissenlose Manager und die Praxis von Finanzinvestoren, Unternehmen aufzukaufen, um sie zu liquidieren. Ebenso wenig hat die grüne Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhardt Münteferings Kritik zurückgewiesen; sie hat sie vielmehr begrüßt und auf Nachfrage ergänzt, man könne nicht alle Unternehmen über einen Kamm scheren. Natürlich ist auch Müntefering dieser Meinung, wenn man das eine Meinung nennen kann. Die Positionen von SPD und Grünen sind in der Kapitalismus-Frage vollkommen identisch. Aber man will lieber heraushören, dass sie sich streiten, um bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen verschiedene Wählergruppen anzusprechen. Diese Deutung der Medien fand der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck (SPD) hilfreich: Er warf den Grünen vor, sie drückten sich vor einer klaren Stellungnahme.

Nun streiten sie also wirklich. Worum eigentlich? Wohl um die "Heuschrecken", von denen Müntefering bildlich gesprochen hatte. Da kommen Deutschlands wahre Probleme ans Licht. Hat Müntefering auf die ägyptischen Plagen anspielen wollen, wie Göring-Eckardt meint? Das hieße ja, er billigt im tiefsten Herzen die Heuschreckenplage, da sie, wenn Deutschland dem Ägypten der Bibel gliche, eine gerechte Strafe wäre (wahrscheinlich für zu viele bürokratische Vorschriften). Der Historiker Michael Wolffsohn hat schon weitergedacht: Er meint, wer Kapitalisten mit Heuschrecken vergleicht, hat ihre Vernichtung vor, will sie ausrotten wie Hitler die Juden. (Dabei sind sie Gottes Justizbeamte, und solche greift man nicht an.) Wir finden uns mit Bibelexegese beschäftigt. Außerdem mit Biologie. Die Zeitungen belehren uns über den Körperbau und die partielle Nützlichkeit der Tierchen. Soll man da nicht zu Johann Peter Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes greifen? Dort wird von Gefangenen erzählt, die sich über Spinnen freuen, weil sie ihnen Kurzweil verschaffen. Die 200 Jahre alte Geschichte lässt sich wahrscheinlich brandaktuell auf unsere Heuschrecken übertragen.

Gesprächsstoff ist jedenfalls vorhanden. In seinem Schatten setzt sich ein interessantes Phänomen durch: Das Wort "Kapitalismus" ist inzwischen positiv besetzt. Man spricht staunend von Wunderdingen wie Humankapital, Wissenskapital, Erfahrungskapital, symbolisches Kapital. Müntefering hat den Kapitalismus nicht kritisiert. Aber wer weiß, er hätte es ja tun können. Darum geht es. Seine Worte boten Gelegenheit, den Kapitalismus zu loben.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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