Kaum zu glauben, dass es uns so lange schon gibt – aber das liegt daran, dass sonst etwas fehlen würde. Schon 1990, im Jahr unserer Gründung, war klar: Weder dieses Land noch die ganze Welt sind am Ziel aller Wünsche, ja auch nur des Notwendigen. Das „Ende der Geschichte“ ist noch längst nicht erreicht. Warum auch: wegen der „Wiedervereinigung“ etwa, die in der schnöden Form des Anschlusses vollzogen wurde? Oder weil, wie ich damals von Linken hörte, „nun auch die Moskauer Bananen kaufen können“? Wir waren andere Linke. Wir sahen, dass die Probleme fortdauerten, um derentwillen der Sowjetkommunismus entstanden war. Übrigens war das schon aus dem Bundestagswahlkampf zu ersehen, den damals Oskar Lafontaine (für die SPD) gegen Helmut Kohl (CDU) verlor: Während Kohl als „Kanzler der (deutschen) Einheit“ wiedergewählt wurde, hatte Lafontaine die ökologische Wende einleiten wollen. Die steht noch heute aus, und wir haben immer gewusst, dass das kein Zufall war oder ist.
Oft wurden und werden wir als linksliberal etikettiert. Das hören wir gern. Denn darin schwingt mit, dass Demokratie und Freiheit, solidarischer Individualismus und die „offene Gesellschaft“ oberste Maßstäbe sind. Das ist nicht alles schon da, nicht in Vollendung jedenfalls und oft nicht einmal so, dass man es befriedigend nennen könnte. Aber gerade deshalb muss man betonen: So fragwürdig wir vieles finden, es geht nicht darum, alles über Bord zu werfen, um das Bessere zu erreichen. Nicht einmal ein Karl Marx hat das ja gewollt, vielmehr nannte er unsere Produktionsweise progressiv, obwohl er sie bekämpfte. Und so sehen wir das auch. Obwohl es offenbar einen Zusammenhang gibt zwischen der Produktionsweise und der ökologischen Krise.
Progressiv fand Marx sie nicht zuletzt deshalb, weil in ihr das Individuum sich mehr befreit hatte als jemals zuvor. Zu bekämpfen war sie in seinen Augen, weil die Befreiung hinterrücks zwar nicht wieder abgeräumt, aber doch arg eingeschränkt wurde. Er bedauerte dafür sogar die Kapitalisten, die nun unter dem Zwang der Konkurrenz standen, vor allem aber die Masse der Bevölkerung: Die Lebensweise der „Proletarier“, schreibt er schon früh, stehe „im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“. Später revidiert er die generelle Verwerfung des Staates. Ein politisches Gemeinwesen müsse es natürlich geben, und es werde nun einmal Staat genannt. Nur soll er nicht, wie „bisher“, im Auftrag oder Interesse der Kapitalisten die Gesellschaft beherrschen. Als die deutschen Liberalen und die Arbeiterbewegung den Parlamentarismus erkämpft hatten, wurde er von Marx und Engels begrüßt.
Lob auch für Merkel
Die „Klassiker“, wie sie in der DDR genannt wurden, haben übrigens die Notwendigkeit, das Patriarchat abzuschaffen, auf die gleiche Stufe mit ihrem Antikapitalismus gestellt. Und wenn sie auch glaubten, zuerst diesem eine wissenschaftliche Grundlage geben zu sollen, schrieb schon der junge Marx, im Verhältnis von Mann und Frau sei das „Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen“: In ihm erscheine sinnlich und faktisch, „inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen.“ Auch für uns gibt es zwar manches, das genauso wichtig ist wie der Feminismus, aber nichts Wichtigeres. Und wenn auch LGBTQ am Horizont der „Klassiker“ noch nicht auftaucht, ist auch dieses Thema ein antipatriarchales.
Also, ja, wir sind liberal, aber nicht im parteipolitischen Sinn. Denkt die FDP etwa über eine bessere Produktionsweise nach, oder tun es die Grünen? Wir schon. Überhaupt sind wir eigentlich mit keiner Partei zufrieden. Andererseits sehen wir fast überall Lobenswertes. Zum Beispiel die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin im Jahr 2015. Die fanden wir gut, obwohl wir Angela Merkels Partei, der CDU, nun wirklich nicht nahestehen.
Unsere Haltung zur internationalen Politik entspricht dem. Kein Staat ist richtig gut, aber wenn die chinesische und die russische Regierung verteufelt werden, während man dem türkischen Präsidenten alles nachsieht und sogar mit Saudi-Arabien, wo noch Menschen ans Kreuz gehängt werden, verbündet ist, dann ziehen wir nicht mit. Und das nicht etwa, weil wir antiamerikanisch wären. Im Gegenteil, wir wissen, was wir den USA verdanken, wie auch der Sowjetunion. Denn wir denken von Auschwitz her. Und glauben gerade deshalb, dass Deutschlands Rolle in der Welt besonders wichtig sein könnte.
Seit dieser Woche haben wir in jeder Ausgabe einen Debattenteil. Wir kehren damit zu einem Schwerpunkt zurück, den wir schon einmal hatten. Am Anfang des neuen Jahrtausends wurden einige Freitag-Debatten sogar in Buchform veröffentlicht – es ist nicht uninteressant, sie heute noch einmal zu lesen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eines der Bücher verhandelte die Spannung von Nation und Internationalismus. Es äußerten sich Peter Ruben, Leander Scholz, Sahra Wagenknecht, Winfried Wolf und andere. Auf die Frage, ob die Forderung ihrer Partei, alle Grenzsysteme sollten abgebaut werden, auch dann gelte, wenn Millionen Migranten unterwegs seien, antwortete Wagenknecht im Jahr 2002: „Sobald ich sage, na ja, es kommen vielleicht doch zu viele, habe ich den Diskurs der Herrschenden übernommen.“ Migration sei zwar gewiss nicht die Lösung, zur Abschottung habe Deutschland aber kein Recht, solange es „selbst daran mitwirkt, die Fluchtgründe vor Ort immer neu zu reproduzieren“. Vielleicht führen wir dieses Gespräch im neuen Debattenteil noch einmal fort.
An unserem Kultur- und Alltagsteil möchte ich zweierlei hervorheben. Erstens, bei uns arbeiten die Teilredaktionen nicht gegeneinander. Der Kulturteil ist nicht linker als der Politik- und Wirtschaftsteil oder umgekehrt. Schon früh hat der Freitag sich mit dem Slogan „Politik der Kultur, Kultur der Politik“ vorgestellt: Das ist noch heute unsere Herangehensweise.
Innere Demokratie leben
Zweitens, die Rubrik „Zeitgeschichte“, die es ja nun auch nicht in jeder Zeitung gibt, stand nicht zufällig bis zur vorherigen Ausgabe, die noch keinen Debattenteil hatte, am Ende des Politikteils und damit am Anfang des Kulturteils. Denn auch in diesem geht es uns darum, den Ereignissen, der aktuellen Kunst und Literatur die Zeichen der Zeit abzulesen. Wie man umgekehrt vom Politikteil sagen kann, dass wir uns bemühen, das Aktuelle gleichsam mit den Augen des Historikers oder der Historikerin zu interpretieren. Gerade in diesen Monaten der Coronakrise ist das eine wichtige Herausforderung. Der Unterschied ist freilich, dass wir in der Politik und Ökonomie immer auch fragen, wie sie anders sein könnten – denn die Epoche, in der wir leben, ist eine des Übergangs, auch wenn sie sich noch so sehr den Anschein des Ewigen gibt –, während wir der Kunst vor allem zuhören, mit auch politischen Ohren allerdings. Dazwischen gibt es natürlich einen Bereich, wo sich das überschneidet. Aber wir halten es nicht wie Alain Badiou, der in seiner freien Übersetzung von Platons Schrift über den Idealstaat der Kunst jene Rolle zuteilt, die sie schon im antiken Griechenland und noch im Sowjetkommunismus hatte, nämlich die Affekte zu kontrollieren.
Nicht am unwichtigsten ist die innere Demokratie unseres Blattes. Als Redaktion im Eigenbesitz unserer Souveränität, zunächst auch mit eigenen Finanzmitteln, sind wir 1990 gestartet. Letzteres ließ sich auf Dauer nicht halten, aber auch die Gruppe um Willi Brüggen, die das Blatt dann übernahm, hat uns nie etwas aufgezwungen. Wir waren selbstverwaltet, am Anfang auch formell, dann faktisch. Unter Jakob Augstein sind wir das nicht mehr, aber auch er erteilt uns keine Befehle. Er hat uns so gut aufgestellt, wie unsere damalige Crew das nie hätte tun können. Wenn es Differenzen zwischen ihm und uns gegeben hat, wurden sie offen ausdiskutiert. Ganz persönlich möchte ich hinzufügen, dass ich seine Personalpolitik bewundere. Vom alten Freitag sind nur wenige übrig, kein Wunder nach 30 Jahren, aber es hat in unserer Entwicklung keinen Bruch gegeben, und unser Zusammengehörigkeitsgefühl ist groß.
Alles in allem denke ich schon, dass wir ziemlich einzigartig sind.
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