Hilft Kant weiter?

Pazifismus Schon Kant hat mit der Ächtung des Krieges begonnen. Eine Wiederveröffentlichung aus gegebenem Anlass

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In der Community-Debatte um „Pazifismus“ haben sich viele zustimmend oder abweisend auf Kant bezogen, womit sie sicher mehr Tiefe gewinnt. Mir ist dazu jetzt eingefallen, dass es schon während des Kosovo-Krieges den Bezug auf Kant gab, und will dazu den Artikel von mir wiederveröffentlichen, der im Freitag vom 7.5.1999 erschienen ist. Einen Satz darin habe ich fett unterlegt. Wenn ich das heute wieder lese, sehe ich, dass man durchaus guten Grund haben kann, gegen heutigen „Kantianismus“ misstrauisch zu sein, wie Einige es sind, dass man es aber nicht gegen Kant selbst richten muss, der zu seiner Zeit bereits damit begann, den Krieg zu ächten, ziemlich als einziger, soweit ich sehe.

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17.5.1999

Habermas dixit

MENSCHENRECHTE Was der Mensch tun sollte, aber nicht tut

Jürgen Habermas hat in der ZEIT den NATO-Krieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt, obwohl kein UNO-Mandat vorliegt. Zweifel werden zwar nicht verschwiegen. Es gibt bei Fischer und Scharping »ein Overkill an fragwürdigen geschichtlichen Parallelen«. Habermas weiß auch, daß »der großalbanische Nationalismus« nicht besser ist als der serbische. Aber er hat die Zweifel unterdrückt. Denn sonst wäre seine Argumentation zusammengebrochen. Es geht darum, daß er eine »Transformation des Völkerrechts in ein Recht des Weltbürgers« befürwortet. Der Weltbürger soll auch gegen den Willen seines Staates geschützt werden können, notfalls in einer humanitären Intervention, und zwar wenn ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Dieser Tatbestand sei »aus den Leitsätzen der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokyo ins Völkerrecht eingegangen«. Aber wenn Habermas meint, der jugoslawische Tatbestand sei dem in Nürnberg verhandelten Tatbestand vergleichbar, wie kann er dann Fischer und Scharping vorwerfen, ihre geschichtlichen Parallelen seien fragwürdig? Und stellt er die Frage ernsthaft, ob im Kosovo »Weltbürger« angegriffen werden oder ob der serbische mit dem albanischen Nationalismus ringt? Wäre letzteres der Fall, könnte er den NATO-Krieg nicht rechtfertigen. Er macht sich Einwände zu eigen, indem er sie nur zitiert. So werden wohl auch die Grünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz verfahren. Die USA, werden sie sagen, hätten keine radioaktiven Granaten einsetzen sollen, aber ein Grund, den Krieg sofort zu beenden, ist das nicht. Denn ging es nicht darum, so Habermas, »einen mörderischen Ethnonationalismus zu stoppen«?

Sie könnten einfach konkret lesen. Die im Handel befindliche Ausgabe dokumentiert den Bericht des Auswärtigen Amtes, schon von Minister Fischer verantwortet, »über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Stand: November 1998)«. Aus ihm geht hervor: Ab Ende 1995 wurden serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien über Jugoslawien verteilt, zehntausend auch im Kosovo, proportional weniger als anderswo. »Dies wurde von Seiten der Kosovo-Albaner als erneuter Versuch der 'Kolonisierung des Kosovo' gewertet und medienwirksam genutzt.« Seit April 1998 häuften sich Anschläge der UCK auf Polizisten und Polizeistationen. Da an manchen Orten die Polizei floh und auch »Post, Standesämter usw.« ihre Arbeit einstellten, konnten die Freischärler »befreite Gebiete« ausrufen. Da begann die jugoslawische Armee zu kämpfen. Der Bericht stellt im November fest: »politisch aktive albanische Volkszugehörige werden nicht wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sondern als 'Separatisten' verfolgt«.

Diese Tatsachen werden von Habermas und den grünen Spitzenpolitikern nicht zur Kenntnis genommen. Sie schotten sich ab, starren nur noch auf jenes Konstrukt der »Transformation des Völkerrechts in ein Recht des Weltbürgers«. Was ist das für ein Konstrukt? Man glaube nicht, Habermas sei nur irgendein Kommentator der Bombenwürfe. Es hat einen Kreis gegeben, in dem er mit Fischer regelmäßig zusammentraf und dessen politische Ansichten formte. Irgendwann begann Fischer von »Menschenrechten« zu reden, so, wie man es nicht von Helmut Schmidt, sondern von Jimmy Carter kannte. Die Grünen hatten sich einmal gegen beide gewandt. Fischer führt Habermas' Programm aus, nicht das der Grünen. Deshalb kann man jenem Konstrukt nur eine breite Debatte wünschen. Bedarf es wirklich einer »Transformation«? Ich möchte zunächst daran erinnern, daß bereits die UNO-Charta das »Recht des Weltbürgers« kodifiziert. Ihre Ziele sind Weltfrieden, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte (Artikel 1). Ihre Methode ist zum einen das Verbot von Angriffshandlungen und -drohungen zwischen Staaten. Zum andern behauptet sie, daß ein »Zustand der Stabilität und Wohlfahrt« erforderlich sei, damit Staaten friedlich miteinander umgehen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten; deshalb fordert sie »die Verbesserung des Lebensstandards«, »die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und verwandter Art« und »die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte« in einem Atemzug (Artikel 55).

Was Habermas die »Transformation« fordern läßt, ist aus seinem Aufsatz Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, abgedruckt in Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996, zu ersehen. Habermas erweckt jetzt in der ZEIT den Eindruck, er könne sich auf Kant stützen (»Von Kant bis Kelsen gab es diese Tradition auch bei uns«), in dem Aufsatz legt er aber dar, daß Kant unrecht habe. Die Annahme der UNO-Charta, auch Menschenrechtsverletzungen dürften nicht durch Kriege bekämpft werden, nicht einmal durch Kriege eines Staatenbundes, geht auf Kant zurück. Habermas weist sie zurück, ohne eine Begründung auch nur zu versuchen. Kant sei inkonsequent, behauptet er nur: »Wenn aber Kant diese Freiheitsgewähr - 'was der Mensch nach Freiheitsgesetzen tun soll' - für das 'Wesentliche der Absicht auf den ewigen Frieden' hält, 'und zwar nach allen drei Verhältnissen des öffentlichen Rechts, des Staats-, Völker- und weltbürgerlichen Rechts', dann darf er die Autonomie der Staatsbürger auch nicht durch die Souveränität ihrer Staaten mediatisieren lassen«, will sagen, dann muß er erlauben, daß man sich über diese Souveränität hinwegsetzt. Er tut Kant nicht einmal die Ehre an, ihn richtig zu zitieren: nicht davon, was der Mensch »tun soll«, sondern davon, was er »tun sollte, aber nicht tut«, hat Kant gesprochen.

Dieser kleine Unterschied verändert alles. Denn Kant macht sich über Menschen keine Illusionen. Zum Menschenrecht, nach Freiheitsgesetzen zu handeln, wollen sich die Menschen leider gar nicht bequemen, vielmehr nehmen sich Menschengruppen gegen Menschengruppen die »Freiheit«, will sagen die Frechheit heraus, nach Unfreiheitsgesetzen zu handeln. Davon machen auch die Serben, auch die UCK, auch die USA keine Ausnahme. Kant hat einen emphatischen Begriff von Freiheit: das wäre die Kraft, etwas nicht deshalb zu tun, weil es bequem, angeboren, zustimmungsfähig, interessenkompatibel, sondern nur deshalb, weil es richtig ist. Kant sieht sehr deutlich, daß die Realisierung dieser Idee, die immerhin impliziert, daß man im eigenen Denken das Richtige und das Bequeme überhaupt auseinanderhalten kann, nur einem Gott gelingen könnte. Daß es Jesus Christus gelungen sei, stellt er nicht in Abrede, meint aber, der moralische Nutzen dieser Gestalt sei von der Frage, ob es sie historisch gegeben hat, ganz unabhängig. Der Idee der Freiheit können sich Menschen nur annähern. Ja, sie sollen das auch unbedingt tun. Aber wie gesagt, sie tun es nicht. Sie werden es vielleicht tun. Können die Bedingungen dieses Werdens von Staaten geschützt werden, obwohl Staaten auch wieder nur aus Menschen bestehen? Kants Bejahung der Frage wird oft zur Begründung westlichen Verfassungsdenkens zitiert: Wenn die Freiheit der Menschen von Staaten geschützt werden soll, also wieder von Menschen, müssen diese Staaten einer Verfassung unterworfen sein, die auch dann für die Freiheit wirkt, wenn die Staats-Menschen lauter Teufel sein sollten.

Das gilt eben auch für die UNO-Charta. Sie realisiert den von Kant vorgeschlagenen Völkerbund, der auch dann für Freiheit, Frieden, Menschenrechte wirkt, wenn entweder die USA oder Rußland und China oder umgekehrt oder alle zusammen lauter Teufel sein sollten. Wer hingegen der NATO zutraut, sie sei wahrscheinlich »humanitär«, der verwechselt sie mit Jesus Christus. So klar dachte Kant, und deshalb sind seine Formulierungen erschreckend aktuell geblieben: Staaten neigen zu »verschleierter Ungerechtigkeit«, zum Beispiel »böse Absichten an anderen zu erklügeln«; »Menschenliebe« ist nicht dasselbe wie »Achtung fürs Recht der Menschen«; moralisch ist zwar beides, und mit Menschenliebe ist Staatspolitik auch »leicht einverstanden«; aber ehe sie vor dem Zweiten, dem Recht, »ihre Knie beugen müßte, findet sie es ratsam, sich gar nicht auf Vertrag einzulassen«, Beispiel UNO-Charta, »und alle Pflichten auf lauter Wohlwollen«, eben auf Menschenliebe »auszudeuten«; diese »Hinterlist einer lichtscheuen Politik« würde vereitelt, wenn die Politik zur »Publizität« ihrer »Maximen« verpflichtet werden könnte. Wer denkt da nicht an den Annex B des Rambouillet-Diktats? Doch Habermas unterstellt ja dem Westen, er könne Interessen und Normen »bis zu einem bestimmten Grad« in Einklang bringen, deshalb definiere er »gleichsam den Meridian« der Gegenwart.

Daß die NATO sich selbst mandatiert hat, gefällt ihm zwar nicht, aber er behauptet in der ZEIT, das sei nicht anders gegangen. Es sei ein Vorgriff auf Rechtsverhältnisse, eine Ausnahme in einer Übergangssituation. Habermas argumentiert genauso wie die NATO. Diese schreibt es nun schon als Doktrin fest, daß sie zur Ausnahme bereit sei oder sich treiben lassen müsse. Was soll das? Nie hat jemand bestritten, daß Menschlichkeit sich auch an der Bereitschaft zu Ausnahmen mißt. In Ruanda wurde leider keine gemacht. Da schaute die NATO der Ermordung von 800 000 Menschen zu. Wahrscheinlich konnten da Interessen und Normen nicht in Einklang gebracht werden. Aber wenn schon die Regel selber von der erlaubten Ausnahme spricht, dann besteht sie in der Ausnahme. Dann haben wir Ausnahmen, die einer lichtscheuen Logik folgen, daher nicht zur neuen Regel verallgemeinert werden können; dann wird die alte Regel als Lüge gebraucht, und die Ausnahme stößt sie hoch wie einen Luftballon. Habermas ist am Kurswechsel der deutschen Militärpolitik nicht unbeteiligt. Man möchte hoffen, daß er noch mehr Artikel schreibt, in deren Folge der Wechsel, denn er ist falsch, wieder rückgängig gemacht werden kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger