Indiens Raumfahrt: Beim Wettlauf zum Mond nicht abseits stehen
Mondwärts Teilweise sind die indischen Satelliten nach Gottheiten benannt, die der Hindu-Mythologie zuzuordnen sind und eine hindunationalistische Grundierung der Vorstöße ins All nicht verleugnen wollen
Indien will hoch hinaus: Mural am Rande des G20-Gipfels im September 2023
Foto: Sajjad Hussain/AFP via Getty Images
Nach dem exklusiven Erfolg, am Südpol des Mondes eine Sonde weich gelandet zu haben, womit sich Indien nach den USA, Russland und China als vierte große Raumfahrtnation etablierte, konnte es nunmehr auch den Start eines zur Sonne fliegenden Satelliten melden. Er soll sie in 125 Tagen erreichen und fünf Jahre lang umkreisen; mit den gewonnenen Daten will man das Wetter besser verstehen, nicht nur auf der Erde, zudem Wetter- und Kommunikationssatelliten im Erdorbit besser schützen.
Dass dieser Satellit „Aditya L1“ genannt wurde, ist ein neuer Höhepunkt im Traditionsbezug, denn die Adityas sind Gottheiten, welchen die Hindu-Mythologie zwölf monatlich wechselnde Aspekte der Sonne zuordnet. Die zum Mond gesandte Sonde hatte noch einen nüchternen Nam
ternen Namen getragen, „Chandrayaan“, zu Deutsch „Mondfahrzeug“, allerdings in Sanskrit, der Sprache der Hindu-Mythen, wo Chandra als Mondgott figuriert. Sanskrit hat in Indien einen Status wie in Europa das Lateinische. Versuche, es als gesprochene Sprache wiederzubeleben, mehrten sich zuletzt.Das passt zum derzeit regierungsamtlichen Hindu-Nationalismus, der besonders die indischen Muslime an den Rand drängt, doch da die Raumfahrt auch als Beweis für Indiens Aufstieg zur Weltmacht präsentiert wird, scheint sie trotz allem eher integrierend zu wirken. Jedenfalls hört man, dass auch in Moscheen für den Erfolg von „Chandrayaan-3“ gebetet wurde.Und so konnte sich Premier Narendra Modi, als er die Landung der Mondsonde mit den Worten kommentierte, sie sei „ein Siegesschrei für das neue Indien“, der heimischen Zustimmung sicher sein. Er befand sich gerade auf dem BRICS-Gipfel im südafrikanischen Johannesburg, wo auch der russische Außenminister Sergej Lawrow weilte: Ein paar Tage früher war Russlands Sonde „Luna-25“ abgestürzt, die auch zum Mondsüdpol sollte und Indien zuvorgekommen wäre.Mit geschwollener BrustDas ist an sich nichts Besonderes, denn alle Raumfahrtnationen müssen gelegentlich Fehlschläge einstecken; Indien selbst hatte dieselbe Mondmission schon 2019 versucht und war gescheitert. Aber dass jetzt der indische Erfolg mit dem russischen Misserfolg zusammentraf, ließ doch die nationalistische Brust schwellen, zumal andere Nationen, wie Israel oder Japan, auf dem Mond überhaupt nur Trümmer hinterlassen haben.Was will Indien auf dem Mond, was will überhaupt die indische Raumfahrt? Wie bei allen Raumfahrtnationen spielen ganz verschiedene Dimensionen eine Rolle, von denen mal die eine, mal die andere obenauf sein kann. Grundsätzlich ist wohl immer der militärische Aspekt am wichtigsten: Wer eine Rakete zum Mond schicken kann, kann auch auf der Erde Langstreckenraketen starten, die dann etwa mit Atombomben bestückt sind. Indien ist eine Atommacht wie sein feindlicher Nachbar, das islamische Pakistan; sie bedrohen einander mit Kurzstreckenraketen.Doch auch Peking, die weiter entfernte Hauptstadt eines anderen Nachbarn, der ebenfalls kein Freund ist – man streitet über den Verlauf der gemeinsamen Grenze, wo sich Truppen kampfbereit gegenüberstehen –, liegt in Raketenreichweite. Indien und China sind zwar BRICS-Partner, und Präsident Xi Jinping hat behauptet, diese Staatengemeinschaft werde dem Westen vorführen, wie man Konflikte friedlich regelt. Doch ob solche Worte Substanz haben, muss sich erst beweisen.Immerhin haben Indien und die USA kürzlich erklärt, sie würden in der Raumfahrt eng zusammenarbeiten, während China von den USA systematisch geschnitten wird. So war den Amerikanern wichtig, dass keine chinesischen Kosmonauten zur noch bestehenden Raumstation ISS fliegen dürfen. China, das deshalb eine eigene Raumstation betreibt, hat umgekehrt den indischen Erzfeind Pakistan unterstützt.1961 begann die indische RaumfahrtforschungSchon wenn man verfolgt, wie verschiedene Nationen sich zur Raumfahrt überhaupt befähigten, zeigen sich überall zuerst die militärischen Zusammenhänge. So gehen alle zur Raumfahrt geeigneten Raketen von der deutschen V 2 aus, der „Wunderwaffe“, von der das NS-Regime eine Wende noch in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs erhoffte. Das zum Bau erforderliche Know-how wurde, in Gestalt der leitenden Ingenieure, vor allem in die USA, teils aber auch in die Sowjetunion verbracht; R 1 (SS 1), die erste sowjetische Rakete, ist praktisch ein Nachbau der V 2. Die UdSSR gab das Wissen an China weiter, als die beiden sozialistischen Staaten noch nicht verfeindet waren; zehn Jahre kooperierten sie. China erhielt 1956 zwei R-1-Raketen und begann 1958 ein eigenständiges Programm. Auch viele Staaten der damals sogenannten Dritten Welt wurden beliefert, und sie belieferten einander.Was Indien angeht, strebte es von Anfang an nach Eigenständigkeit, arbeitete mit vielen Nationen zusammen, auch mit den USA, mit Frankreich und der Bundesrepublik. Das Zusammenwirken mit der Sowjetunion war aber doch am intensivsten. Die indische Raumfahrtforschung begann 1961, zunächst mit Höhenforschungsraketen nach französischer Lizenz. In den 1970er Jahren wurde ein eigenes Weltraumprogramm begründet, das immer auch für die militärische Nutzung etwas abwarf. 1974 fand der erste Nuklearwaffentest statt.1983 wurde mit „Prithvi“ nach indischen Angaben die erste ballistische Rakete ganz ohne ausländische Hilfe gebaut – Reichweite 350 Kilometer –, dabei wurden aber die Motoren der sowjetischen Flugabwehrrakete S-75 kopiert, zudem französische Lenkelemente übernommen. In der vedischen Religion ist „Prithvi“ als „Mutter Erde“ allen Wesen freundlich gesinnt, die Rakete gleichen Namens stieg jedoch auf, wenn die indisch-pakistanischen Spannungen zunahmen.Eine andere Dimension der Raumfahrt ist das Geschäftliche. So lassen viele Nationen ihre erdorbitalen Satelliten von Indien aus starten, wo sie das am billigsten kommt. Und der Mond ist für die großen Nationen, auch Indien, schon wegen der reichen Vorkommen seltener Erden, wie Lithium, interessant. Die USA haben schon Mondzonen festgelegt, in denen Mondrohstoffe nur von solchen Nationen ausgebeutet werden dürfen, die einen Vertrag unterzeichnet haben. 28 Staaten sowie die Raumfahrtagentur der EU sind Vertragspartner, nicht aber Indien, dafür die Ukraine, während Russland wie China ausgeschlossen sind und den Pakt kritisieren. Wer weiß, ob es demnächst neben Weltkriegen auch Mondkriege geben wird.Kapitallogik im KosmosDann die wissenschaftliche Dimension, die natürlich bei der indischen Landung am Südpol des Mondes im Vordergrund steht. Neue Erkenntnisse über die mineralische Zusammensetzung der Mondoberfläche werden erhofft. Schwefel und Aluminium sind schon bestätigt. Vor allem aber das Eis steht im Fokus, weil es wohl Sauerstoff und Trinkwasser enthält. Das ist nicht nur wissenschaftlich interessant: Trinkwasser wäre wichtig für eine künftige bemannte Mondstation.Immer schon hat die Vorstellung, dass die Menschheit andere Himmelskörper besiedeln oder gar zu ihnen auswandern würde, zu den Dimensionen von Raumfahrt gehört. Wenn derzeit ein Mondwettlauf im Gange ist, nach zuvor jahrzehntelang geringem Interesse am Erdtrabanten, spielt das womöglich die Hauptrolle. Die USA und China wollen bis 2030 Menschen zum Mond gebracht haben. Und auch Indien hat solche Ambitionen.Rakesh Sharma war der erste indische Astronaut: Zusammen mit zwei sowjetischen Kollegen verbrachte er im April 1984 knapp acht Tage an Bord der sowjetischen Orbitalstation „Salut 7“. Als er darauf im November 2018 im India Today Magazine zurückblickte, schrieb er, die Menschheit sei nun an dem Punkt angelangt, wo sie die Erde verlasse, „mit dem erklärten Ziel, andere Planeten zu besiedeln“. „Wenn wir“, Indien, „ein vollwertiger Akteur auf diesem Gebiet sein wollen, ist es unvermeidlich, dass wir eine vollwertige Raumfahrtnation werden.“ Fünf Jahre später kann man sagen, dass es gelungen ist.Warum hat der Mondwettlauf, in dem Indien nun einen Coup gelandet hat, so viel Fahrt aufgenommen? Ein eher unbewusster Grund könnte die Klimakatastrophe sein, über die sich Illusionen zu machen von Sommer zu Sommer schwieriger wird. Der kapitalistische Ausweg besteht eben weniger im Versuch, die Erde zu retten, als im Ausgreifen der Kapitallogik ins All. Dafür ist der menschliche Körper zwar nicht geschaffen, wie gerade Sharma berichtet: „Ihr Gesicht und Ihre Zunge schwellen an. Die Gehörgänge verstopfen mit Blut und werden überempfindlich. Ihr Kopf bewegt sich ständig ... Der Gang zur Toilette ist eine hohe Kunst, denn auch die körperlichen Ausscheidungen sind schwerelos, genau wie Sie. Man muss also dafür sorgen, dass sie effektiv aufgefangen werden.“Was soll’s! Sharma ist trotzdem begeistert. Er habe „keine großen Probleme“ gehabt, sich anzupassen. Auch die Erde wird ja bald Übung erfordern. Wie es sich lebt bei 50 Grad Celsius, zeigt sich jetzt schon in Phoenix (Arizona). Der Asphalt wird bis zu 80 Grad heiß, man darf also nicht fallen – oder nur im Raumfahrtanzug.