In der CDU wird Angela Merkel zunehmend als Belastung empfunden. Dass sie nur den Parteivorsitz abgeben, Kanzlerin aber bleiben will, ist vielleicht nicht genug. Ein Vergleich mit der Kanzlerdämmerung ihres Vorgängers Helmut Kohl bietet sich an. Der hatte sich wie Merkel vier Mal ins Amt wählen lassen, zuletzt 1994, und das war schon ein Mal zu viel gewesen. Die Unionsparteien verloren 2,3 Prozent, die FDP als Koalitionspartner verlor 4,1 Prozent. Kohl trat dennoch 1998 zum fünften Mal an, und nun sackten allein die Unionsparteien um weitere 6,3 Prozent ab. Den Wahlsieg errangen SPD und Grüne. Hätte Kohl das Amt vorher an Wolfgang Schäuble abgegeben, den er selbst als seinen „Kronprinzen“ ansah, wäre es vielleicht anders gekommen. Wird sich die CDU daran erinnern? Steht sie 2021 besser da, wenn sie die Kanzlerin nicht dann erst austauscht?
Der Vergleich wird zeigen, dass die heutige Situation der Zeit vor 1998 einerseits wirklich ähnelt, andererseits auch ganz verschieden von ihr ist. Drittens aber: Die politische Epoche, in der wir heute stehen, hat genau damals begonnen. Sodass sich die Frage stellt, ob sie heute beendet wird oder fortdauert – mit oder ohne Merkel.
Was Kohl angeht, so hatte er das Amt schon 1996 Schäuble übergeben wollen. Das behauptete er 2003. „Ich glaubte, 14 Jahre waren genug. Ich hatte auch genug geschafft.“ Warum hört man solche Sätze nicht auch von Merkel? Aber Kohl hat seine angebliche Absicht nicht ausgeführt. Er sei der einzige Garant der Euro-Einführung gewesen. „Ich muss es durchsetzen“, will er sich gesagt haben. Ein Nachfolger hätte die Reihen nicht schließen können, redete er sich ein. Da werden zwei Züge sichtbar, die auch Merkel attestiert werden können: erstens der Glaube an die eigene Unverzichtbarkeit – oder soll man sagen die Unlust, von der Macht abzulassen – , und zweitens die Flucht in die Sphäre der internationalen Politik, während im Inland die „Hausaufgaben“ unerledigt liegenbleiben.
Letzte Kanzlerjahre
Der vollmundigen Formel „Wir schaffen das“, mit der Merkel 2015 den großen Flüchtlingsstrom einreisen ließ, folgten keine Taten. Danach ging allzu viel schief. Es gelang nicht, die Flüchtlinge über Europa zu verteilen. Im Inland warteten die Schlechtergestellten vergeblich auf mehr sozialstaatliche Hilfe, während in den vorhandenen schlechten Sozialstaat nun auch die Flüchtlinge einbezogen wurden. Das Ergebnis war der Aufstieg der AfD. Da liegt es nahe, an Kohls „blühende Landschaften“ zu denken, die er den neuen Bundesländern im Wahlkampf 1990 versprochen hatte. 1991 gab er sich „überzeugt“, es bis 1995 geschafft zu haben. Stattdessen war aber die Arbeitslosigkeit im Osten auf 10,2 Prozent gestiegen, und die Wähler liefen scharenweise zur PDS über. Die PDS hatte 1990 im Beitrittsgebiet 11,1 Prozent der Stimmen erhalten, 1994 kam sie auf 19,8 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg dort bis 1998 auf 19,2 Prozent.
Kohl hielt sich trotzdem im Amt, auch weil er seine möglichen innerparteilichen Konkurrenten kaltgestellt oder ausgeschaltet hatte. Auch darin ist Merkel seine Schülerin gewesen. Wie Kohl Schäuble zum „Kronprinzen“ hoch- und weglobte, so machte Merkel Christian Wulff zum Bundespräsidenten und sah zu, wie er dort scheiterte. Wie Kohl Heiner Geißler entsorgte, so Merkel Norbert Röttgen. Und doch musste einmal die Stunde der Wahrheit kommen, für beide. Denn was man Kohl ständig nachsagte: er „sitze“ die Probleme „aus“, gab Merkel sogar selber zu. Sie fahre „auf Sicht“, beschrieb sie ihren Politikstil. Das sei auch 2015 ihr Fehler gewesen, kritisiert Grünen-Parteichef Robert Habeck. Der Syrien-Krieg habe da nicht erst begonnen. Die Bundesregierung habe den Kopf in den Sand gesteckt, das Land auf die Flüchtlinge nicht vorbereitet.
Auch in Kohls letzten Kanzlerjahren wuchs der innerparteiliche Widerstand. Der „Kronprinz“ begann sich abzusetzen. Schäuble hatte geglaubt, er und nicht Kohl werde den Wahlkampf 1998 anführen; als das nicht geschah, legte er aber doch einen Wahlprogrammentwurf vor, in dem er für eine EU-weite Ökosteuer plädierte. Deren Einführung allein in Deutschland lehnte er ab. Für Kohl war es trotzdem ein Fehltritt, er war „fassungslos“. Aber hätte es nicht den Rot-Grünen etwas Wind aus den Segeln genommen? Schäuble stand auch gar nicht allein. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hatte sein Papier „mit Spannung“ gelesen, Bundesumweltministerin Merkel freute sich über die „sehr schöne, klare Sprache“, und Klaus Escher, der damalige Vorsitzende der Jungen Union, sprach von einem „mutigen, freiheitlichen Entwurf“.
Verglichen mit dem Treiben einer Gruppe von 30- bis 35-jährigen Bundestagsabgeordneten, den „jungen Wilden“, wie die Medien sie nannten, war das noch harmlos. Neben Röttgen gehörten Hermann Gröhe, Peter Altmaier und andere, die später unter Merkel Karriere machten, dazu. Sie sprachen sich für die doppelte Staatsbürgerschaft aus, riefen gemeinsam mit den Grünen zum Klimaschutz auf und trafen sich mit einigen Grünen zur „Pizza-Connection“. Die Ökosteuer wollten sie im nationalen Alleingang einführen. Kohl sah allerdings keine Gefahr. Er war so sehr von sich überzeugt, dass ihn diese Konkurrenz sogar freute. Sie zeige den Leuten, wie modern seine Partei sei, meinte er.
Hier sehen wir schon, dass damals die Merkel-Epoche anbrach, die heute ihrem raschen Ende entgegenzugehen scheint. Aber auch auf einen zweiten Aspekt der damaligen Kohl-Dämmerung trifft das zu. Ein Jahr vor dem Machtwechsel 1998 war „Reformstau“ das Wort des Jahres gewesen. Von einem Reformstau kann wahrlich auch heute die Rede sein. Die Große Koalition hat zwar einiges auf den Weg gebracht – den Zusatzbeitrag der Krankenkassen werden wieder Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen zahlen, das Kindergeld wird steigen, die Kitas werden besser ausgestattet und die Familien steuerlich entlastet –, aber, wie Annegret Kramp-Karrenbauer als Generalsekretärin der CDU selbst einräumt, kommt in den Fragen, die am meisten auf der Haut brennen, Dieselskandal und Mangel an bezahlbaren Wohnungen, überhaupt gar nichts voran. Noch interessanter ist freilich, dass der „Reformstau“ von 1997 aufgelöst wurde und wir die Folgen bis heute ausbaden. Ausgerufen hatte ihn der damalige Bundespräsident Roman Herzog, CDU. Aufgelöst wurde er durch die Agenda-Politik Gerhard Schröders, SPD, dem Kohl das Kanzleramt übergeben musste. Merkel hält bis heute an dieser Politik fest.
Ein kapitaler Ruck
Herzogs Auftritt von 1997 ist als „Ruck-Rede“ in Erinnerung, weil der Bundespräsident gesagt hatte, ein Ruck müsse durch Deutschland gehen. Das war ein Vorgang, der heute unmöglich wiederholt werden könnte. Herzog machte sich zum Sprecher des Kapitals, forderte in dessen Auftrag die rasche Umstrukturierung der Arbeitswelt. Dass er damit seinem Parteifreund Kohl den politischen Todesstoß versetzte, scherte ihn nicht. „Was leben wir den jungen Menschen vor?“, fragte er. „Das Leitbild des ewig irritierten, ewig verzweifelten Versorgungsbürgers kann es doch wahrhaftig nicht sein!“ Wem schrieb er das ins Stammbuch, im Vorjahr einer Bundestagswahl, wenn nicht Kohl? „Wir müssen endlich die Reform-Hausaufgaben machen, über die wir schon so lange reden.“ Als dann Schröder Kanzler geworden war, wurde dessen Minister Rudolf Scharping einmal gefragt, ob die SPD-Regierung nicht die Politik der CDU ausführe. „Ja, aber die CDU hat nur geredet!“, antwortete Scharping.
Was folgt? Mit wem?
Deregulierung des „Bürokratismus“, „Flexibilität“ der Arbeitsverhältnisse, Prüfung der „Besitzstände“ mit erfreulichem Ausgang für Unternehmer (Steuersenkung), Mut, gegen die öffentliche Meinung zu handeln, von Ökologie kein Wort: Diesen Tonfall wagt nach der Wirtschaftskrise 2008 ff. niemand mehr anzuschlagen. Aber auch wenn Herzog lange vor Merkel sagte, wir schaffen das („Überall in der Welt – nur nicht bei uns selbst – ist man überzeugt, dass ‚die Deutschen‘ es schaffen werden“), er behielt recht. Er hatte sogar auch für junge Wilde ein Türchen geöffnet, indem er „eine Gesellschaft der Toleranz“ in Aussicht stellte. Wie zunächst Schröder das Programm des Kapitals durchsetzte („Wir haben verstanden“, war 1998 sein Wahlkampfslogan), so nach ihm Merkel an der Spitze der ehemals jungen Wilden.
Diese Politik ist heute in der Krise und kann hoffentlich nicht mehr lange fortgeführt werden. Die „Gesellschaft der Toleranz“ – dass Merkel der „Ehe für alle“ zustimmte und sich 2015, wenn auch viel zu langsam, dem Flüchtlingsproblem stellte – ist zwar ein großer Fortschritt. Kehrseite einer Agenda-Politik hätte Toleranz aber nicht sein dürfen. Dafür bekam neben der SPD auch die Merkel-Union ihre verdiente Quittung. Erst stieg die AfD über zehn Prozent, jetzt steigen die Grünen über 20 Prozent. Was nun? Es entspricht den politischen Gepflogenheiten, dass man Merkel als Verkörperung der jetzt scheiternden Politik verantwortlich macht. So sind denn neue CDU-Wilde hervorgetreten, die „Werte-Union“, deren Vorsitzender Alexander Mitsch am 17. Oktober die „Stimmung in der CDU“ als so „miserabel“ beschrieb, „dass nur noch die bevorstehende Wahl in Hessen als Korken auf der im Innern brodelnden Partei eine Eruption verhindert“. Im Fall eines Wahldesasters – der eingetreten ist – werde „endgültig jedem klar sein, dass der Linkskurs von Frau Merkel und insbesondere ihre uneinsichtige Asylpolitik die CDU in den Abgrund führen“.
Aber damit allein, dass Merkel nicht nur den Parteivorsitz, sondern auch das Kanzleramt aufgibt, wäre die CDU noch keinen Flohsprung vorangekommen. Die Frage ist, wer ihr nachfolgt. Wer den Parteivorsitz erlangt, wird wahrscheinlich auch nächster oder nächste Kanzlerkandidat(in) sein. Merkel selbst favorisiert Kramp-Karrenbauer, die ihren asylpolitischen Kurs fortführen würde. Aber auch Jens Spahn will Parteivorsitzender werden, er würde das nicht tun. Und sogar Friedrich Merz will es noch einmal wissen. Er würde die CDU in die 1990er Jahre zurückführen.
Eigentlich gibt es zu Merkels „Toleranz“-Kurs, und somit zu Kramp-Karrenbauer, gar keine Alternative. Diesen Teil von Herzogs Ruck-Rede aufzugeben, kann sich die CDU bei Strafe des Untergangs nicht leisten. Aber sieht sie es auch ein? Kann sie das Menetekel der Hessen-Wahl entziffern? In den begleitenden Umfragen sprachen sich 70 Prozent für Grüne in der Bundesregierung aus. Am ehesten den Grünen (24 Prozent) wird zugetraut, „die besten Antworten auf die Fragen der Zukunft“ zu haben (CDU 14, SPD 13 Prozent). Eine knappe absolute Mehrheit ist zugleich der Ansicht, die Grünen hätten zu viele Abstriche an ihrem ursprünglichen Programm gemacht. Dennoch richtet sich die Erwartung vor allem auf sie. In den Großstädten, bei Frauen, Jüngeren und Hochgebildeten führen sie deutlich. Haben die Unionsparteien da noch die Wahl, sich ihnen oder doch lieber der rückwärtsgewandten AfD anzuschließen? So viel ist klar, dass Letzteres ihnen nicht gut bekäme.
Merkel hat etwas von Kohls Charakter, hat aber auch einen Schritt über ihn hinaus getan, wie Kohl selber zuvor über die Adenauer- und Barzel-CDU. Hat Merkel ihrer Partei schon zu viel bittere Medizin eingeträufelt? Man wird sehen.
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