Mehr Mut zum Streit!

Pandemie In der Corona-Frage stehen sich die Lager ebenso feindlich wie stumm gegenüber. Das bringt unsere Demokratie in Gefahr
Ausgabe 43/2020
Die Krisenverwalter, v.l.n.r.: Prof. Dr. Lothar Wieler, Prof. Dr. Christian Drosten, Jens Spahn
Die Krisenverwalter, v.l.n.r.: Prof. Dr. Lothar Wieler, Prof. Dr. Christian Drosten, Jens Spahn

Foto: Imago Images/Jens Schicke

Markus Söder will die Corona-Pandemie schneller, effektiver und vor allem einheitlicher bekämpfen. Bisher haben sich Bund und Länder über alle Schritte abgesprochen und sind in Einzelfragen trotzdem verschiedene Wege gegangen. Das hält der bayerische Ministerpräsident für schädlich. Fehlt es an Einheit oder nicht doch eher an Wissenschaftlichkeit? Wissenschaft heißt, dass man Hypothesen nicht mit Wahrheit verwechselt. Die wahrscheinlichsten Annahmen dem Handeln zugrunde legt, dabei den Streit der Hypothesen nicht vergisst. Stattdessen organisiert man ihn. Und weil niemand die Wahrheit kennt, lässt man keine unumkehrbare Situation entstehen.

Gerade für uns Medienmenschen, die wir keine Pandemie-Experten sind, führt nichts an der Einsicht vorbei, dass es in der Corona-Frage zwei konträre wissenschaftliche Parteien gibt, die beide Anspruch auf Gehör haben. In der Frage der Klimakatastrophe urteilen Wissenschaftler:innen nahezu einhellig. Deshalb können Leute, die sich ihren Diagnosen verschließen, mit Recht „Leugner“ genannt werden. Die Autor:innen der jüngst veröffentlichten „Great-Barrington-Erklärung“, Martin Kulldorf, Sunetra Gupta und Jay Bhattacharya, sind aber ein anderer Fall. Kulldorf zum Beispiel war 1997 in die Beratergruppe für Krankheitskartierung der Weltgesundheitsorganisation WHO berufen worden. Er hat auch für das EU-Forschungsprojekt ADVANCE zur zeitgerechten und evidenzbasierten Analyse von Impfeffekten gearbeitet. Muss man betonen, dass das nicht heißt, dass er und seine Kolleg:innen „recht haben“? Es heißt nur, dass etwas nicht stimmt, wenn sie wie „Covidioten“ behandelt werden. Ebendas geschieht aber.

Die drei Forscher:innen haben erklärt, die gegenwärtige Corona-Politik sei falsch; man solle die Risikogruppen schützen, ansonsten aber die Herdenimmunität anstreben, statt auf den Impfstoff zu warten. Ohne Herdenimmunität verschwinde das Virus niemals. Das ist eine der großen Streitfragen. Klar ist jedenfalls, dass, wenn es nicht verschwindet, auch die Absenkung unserer Grundrechte immer bleibt. Und was den Impfstoff angeht: Lange hieß es, wenn er da sei, könnten alle Maßnahmen aufgehoben werden. In den letzten Wochen ist das zurückgenommen worden. Nach einem Gesetzesentwurf, der jetzt vorgelegt wurde, sollen die Ausnahmeregelungen „verstetigt“ werden. Natürlich nur, wenn es notwendig sei. Aber wird denn die Frage, ob es notwendig ist, überhaupt gestellt?

Die Frage zum Beispiel, ob das pure Starren auf die Infektionszahlen die gegenwärtige Politik rechtfertigt. Wer infiziert ist, ist deshalb noch nicht krank. Am Anfang des Jahres wurde mit Hinweis auf diese Zahlen die Gefahr einer Überlastung der Krankenhäuser beschworen. Das war damals als Vorsichtsverhalten richtig. Nachdem aber der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, jetzt wieder von einem Personalmangel in den Kliniken sprach, hat die Deutsche Stiftung Patientenschutz vor „Panikmache“ gewarnt: „Die Intensivstationen in Deutschland sind weit weg von einer Überlastung“, so Vorstand Eugen Brysch. Und nun, wie argumentiert man stattdessen? Fehlanzeige.

Der von der Politik und den Medien erzeugte öffentliche Diskurs ähnelt ein wenig dem Burgfrieden im Ersten Weltkrieg. Wissenschaftliche Parteien will man nicht mehr kennen. Wenn sich doch eine zeigt, wird sie zwar nicht eingesperrt, wie damals Karl Liebknecht, aber weggewischt wie Staub. So erging es Kulldorf und Kolleg:innen: „Alte Ideen – neu verpackt“ betitelt tagesschau.de einen Beitrag dazu, der unter der Rubrik „faktenfinder“ erscheint, womit ausgesagt wird, dass ihre Erklärung die Fakten verfälsche. Mehrere Wissenschaftler:innen, die ihnen widersprechen, werden benannt und zitiert, sie selbst aber bleiben namenlos.

Das sind unerträgliche Zustände, die auf das Hauptproblem verweisen: Eine öffentliche Debatte zwischen den beiden Parteien wird nicht nur nicht herbeigeführt, sondern sogar massiv verhindert. So erreichte Corona Fehlalarm?, das Buch von Karina Reiss und Sucharit Bhakdi, den ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste, obwohl es in allen größeren Medien totgeschwiegen worden war. Dabei ist auch Bhakdi, wie immer man zu seiner Einschätzung steht, ganz sicher kein „Covidiot“. Er ist Infektionsepidemiologe, neben vielen wissenschaftlichen Auszeichnungen erhielt er 2005 den Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz.

Seine Thesen „werden von einer überwiegenden Mehrheit der Experten als unwissenschaftlich eingestuft“, liest man bei Wikipedia. Aber mindestens, wenn er fragt: „Warum gab es nicht mal eine Diskussionsrunde, einen offenen sachlichen Austausch: Drosten und Wieler – Bhakdi und Wodarg an einem runden Tisch?“, hat er ganz sicher recht. Dass es eine solche öffentliche Debatte nicht gibt, ist ein politischer Skandal ersten Ranges. Bei Immanuel Kant lesen wir, Aufgeklärtsein heiße, sich nicht einmal vom Arzt die eigene Entscheidung abnehmen zu lassen. Wie nun erst, wenn „There is no alternative“ gelten soll, nicht nur ökonomisch, sondern auch medizinisch – als gäbe es nur Herrn Drosten, der übrigens zwar Virologe, aber kein Epidemiologe ist, und sonst nur Kurpfuscher? Dann müssen wir um unsere Demokratie zittern.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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