Missmut im Neoliberalismus

Stimmungsbilder Heinz Bude versucht eine Gesellschaftsdiagnose mit den Mitteln der Ästhetik
Ausgabe 11/2016

Die Frage nach „Stimmungen“, ist sie an Oberflächlichkeit zu überbieten? Und doch erlaubt es der Meeresspiegel, in die Tiefe zu schauen, und zeichnen sich Himmelswinde auf ihm ab. Heinz Bude, der in Kassel lehrt, hat ein interessantes Buch geschrieben. Stimmung ist zunächst ein psychologischer Begriff: dauerhafter als Gefühl und Affekt und den ganzen Menschen ergreifend. Bude langt deshalb schnell bei Martin Heidegger an, der von der „Gestimmtheit“ sagt, sie sei eine „Weise des In-der-Welt-Seins“ und steige aus diesem auf. Die Formulierung hält einen Zusammenhang des Gesellschaftlichen und Individuellen fest. Worin soll er bestehen und wie zustande kommen? Soziologisch geht Bude von Gabriel Tarde aus, der in letzter Zeit häufiger genannt wird neben seinem bekannteren Zeitgenossen Émile Durkheim. Tarde konstruiert die Gesellschaft vom Individuum her, darauf greift man heute gern zurück, wenn etwas wie „Schwarmintelligenz“ konstatiert und zu erklären versucht wird. Im Schwarm liegt die Logik der Anpassung, doch wenn ein Vogel am Rand der Formation die Richtung ändert, kann das eine Kettenreaktion bewirken und am Ende folgen alle. Das beobachtet man an der Börse wie auf dem Markt der Medien, die teilweise bewusst Stimmungen lenken.

Doch wenn Psychologen sagen, Stimmung sei relativ dauerhaft und ein „Gesamtgefühl“, was wäre die soziologische Entsprechung? Was steigt gesellschaftlich auf, damit ein Gesamtgefühl dauerhaft wird oder wechselt, von dem alle oder sehr viele ergriffen werden? Entscheidend, so Bude, sei „die Betroffenheit durch die sozialräumlich, zeithistorisch und lebensgeschichtlich definierte Situation, die mich dazu auffordert, mich einzubringen und meine Rolle zu spielen“. Zunächst erinnert er uns an die Dauer und den Wechsel gesellschaftlicher Stimmungen, die wir aus unserer Lebensgeschichte kennen: Mit Elvis Presley trat ein Stimmungswechsel ein, dann mit den Beatles und Rolling Stones, später mit Abba. Im Film Casablanca haben Humphrey Bogart und Ingrid Bergman ein ganz anderes „Lebensgefühl“ vermittelt – das des Krieges – als jene Filme aus den 1970er Jahren, in denen man der Kommunikation eines alternden Woody Allen mit jungen Frauen zusah. Man kann auch an James-Bond-Filme mit Sean Connery denken, die den Optimismus der 1960er Jahre spiegeln, oder an einen Film wie Pretty Girl, der uns schon zu Beginn der 1990er Jahre ahnen ließ, dass wir ein Thomas-Piketty-Zeitalter der sich rasant öffnenden Schere von Arm und Reich betraten.

Ohne Geheimnis, ohne Reiz

Diese musikalischen und cineastischen Befunde sind kein beliebiges Beispiel, denn gerade auf dem Feld der Geschlechterverhältnisse, das sie alle illustrieren, kann der Zusammenhang von Stimmung im Überbau und Wandel der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse am besten rekonstruiert werden. Bude konstatiert zunächst, dass die Frauen in „Arbeit, Beruf und Öffentlichkeit“ auf dem Vormarsch sind. Er sieht, dass sie etwa als Ärztinnen oder Juristinnen bald mehr Einkommen erzielen werden als Männer. Schon in der Schule zeigen sich Mädchen intelligenter, deshalb und wegen ihrer größeren kommunikativen Kompetenz – wenn das nicht überhaupt dasselbe ist – haben Frauen in Unternehmen die höheren Trümpfe. Sie werden auch besser mit Katastrophen fertig. Dann kommt noch ihre Fähigkeit, Männer zu erziehen, hinzu. Es gelang ihnen zum Beispiel, dem nach 1968 „deregulierten Liebesmarkt zivile Grenzen“ zu setzen: Sexuell ist alles erlaubt, unter der Bedingung aber, dass alle Praktiken zwischen gleichberechtigten Partnern ausgehandelt werden.

Die Formulierung von der Grenzsetzung im „deregulierten Liebesmarkt“ ist charakteristisch für Budes Buch. Es ist nur eine Anspielung, aber was für eine. Deregulierung kennzeichnet den Neoliberalismus. Neoliberalismus kann als Rückholung individueller Freiheiten, die 1968 neu errungen wurden, in die kapitalistische ökonomische Alltagspraxis interpretiert werden. Das schreibt Bude nicht, obwohl er sich mit der „Selbstmotivierung, Selbstüberprüfung und Selbstverwirklichung“ des neoliberalen Individuums an anderer Stelle ausdrücklich befasst. Hier im Geschlechterkontext blitzt aber auf, dass möglich ist, woran wir beim angeblichen ökonomischen „Wachstumszwang“ verzweifeln: Grenzsetzung!

Auch sonst kann Bude mit bloßen Worten Kontexte markieren. Wenn wir von „Konsumvirtuosen“ lesen, erinnern wir uns nicht nur an Max Webers „religiöse Virtuosität“, sondern auch daran, dass „Stimmung“ aus der Musikersprache herrührt, wie Bude vorher auch erwähnt hat (ein Instrument wird gestimmt und der es gut spielt, ist ein Virtuose). Später spricht er von „der erotischen Musikalität der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Der Ausdruck Virtuosität wäre jetzt unpassend: Mit ihm hatte Weber sich vom Religiösen höflich distanziert – mit der Andeutung, ihm fehle dafür die Begabung –, während sich vom Eros niemand distanziert. Indem Bude aber die Sphäre der „Musikalität“ nicht verlässt, hält er die Andeutung einer religiösen Dimension aufrecht. Und tatsächlich sind Eros und Aphrodite Götter, die abzuschaffen selbst dem christlichen Monotheismus nicht gelungen war. Dass noch heute Religiöses mitspielt, deutet er wieder nur durch Formulierungen an: Nach der „Modernisierung des Sex“ sei die Stimmung „geheimnislos und reizlos“ geworden. Vorher hatte er geschrieben, die „mythischen Demarkationslinien zwischen den Geschlechtern“ seien gefallen.

Nimmt man beides zusammen, kommt heraus, dass eine dem Mythos inhärente Eros-Religion nicht bloß für körperliche Praktiken stand, sondern diese auch „geheimnisvoll“ transzendiert hatte und so auf ein Zukunftsversprechen hinausgelaufen war. Weil das heute vorbei ist, kommt es zur Krise, obwohl sicher niemand zum Mythos zurückstrebt. Heute, so Bude, sind Männer zwar bereit, sich von Frauen, die weit mehr verdienen als sie, in der Ehe aushalten zu lassen. So groß ist der Erziehungserfolg der Frauen. Aber im Bett werden Frauen und Männer damit nicht fertig. Paare geben ihre sexuelle Beziehung bald auf: nicht weil Männer weiter dominant sein wollen, sondern weil es an Sinn fehlt und nur das Handgreifliche übrig bleibt. Das „sexuelle Skript“ ist nicht mehr so aufregend, wie es einmal war.

Das wäre eine Männerlogik

Dies nun schlägt sich in der Stimmung nicht bloß des Paares, sondern gesellschaftsweit nieder, weil viele es erleben. Bude hätte hier ausführen können, dass die Soziologie von Tarde, der sein konzeptioneller Ausgangspunkt gewesen war, dann nicht mehr trägt. Denn warum hatte Tarde die Logik von Schwärmen untersucht? Weil ihm das Phänomen aufgeregter „Massen“ vor Augen stand. Deren Stimmung werde morgens durch die Lektüre derselben Zeitungen koordiniert, sie entlade sich dann auf der Straße. Ja, aber das war eine Männerlogik. Wenn Frauen mitspielen wie heute, ist sie gebrochen. Dass sie sich ausgerechnet in Bewegungen wie Pegida hält, hat sicher viel mit deren Abwehr von „gender mainstreaming“ zu tun. Bude hebt diesen Zusammenhang nicht einmal hervor: Er spricht davon, dass solche Bewegungen Rückzugsgefechte sind, ohne Chance, jemals noch mehrheitsfähig zu werden. Die von Bude angebotene Deutung ist aber ebenfalls wichtig: Es handle sich um ein vor allem ostdeutsches Phänomen, die Ostdeutschen fühlten sich nämlich zurückgesetzt von den „alteingesessenen“ Westdeutschen und ertrügen es schlecht, dass ihnen nun auch noch Flüchtlinge als neueste „Neusiedler“ nachrückten. Die Ethnizität der Flüchtlinge spiele kaum eine Rolle.

Das kommt sicher hinzu, was aber grundlegend und übergreifend ist, zeigt die erstgenannte Deutung. Dass eine Gesellschaft, in der sich die Frauen Gleichberechtigung erkämpfen, missmutig wird, weil man sexuelle Freiheit als perspektivlos erlebt, ist ein nihilistisches Phänomen. Nihilismus ist das Verdämmern übergreifender Ziele. Warum werden Flüchtlinge als Bedrohung aufgefasst, statt dass man sie als welche begrüßt, mit denen zusammen sich solche Ziele schneller realisieren lassen? Wie steht es mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit? Das tragen wir im Munde, unsere Ziele sind es aber offenbar nicht.

„Das Versprechen der begrenzten Freiheiten“, schreibt Bude zuletzt, „wird durch die Ermunterung zum unbegrenzten Aufschub ersetzt. Der Weg soll das Ziel sein.“ Klarer kann sich Nihilismus nicht outen. Und der Ausweg? „Die pragmatische Ethik des Versuchs“, antwortet Bude. Jetzt bräuchten wir nur noch zu wissen, was versucht werden soll.

Info

Das Gefühl der Welt Heinz Bude Hanser 2016, 160 S., 18,90 €

Über das Überleben: Die BIlder des Spezials

Jedes Jahr im Sommer entstehen an ukrainischen Fernstraßen kleine private Märkte für Gemüse und Obst. Die Händler richten sich in Hütten ein oder leben mit ihren Familien in Wohnwagen und Zelten. Sie kommen auch aus Weißrussland und Moldawien, Georgien oder Armenien – alle wollen Geld verdienen für ein besseres Leben oder einfach dem Hunger entkommen. Die preisgekrönte Serie Bitter Honeydew des Fotografen Kirill Golovchenko dokumentiert den Überlebenskampf der Straßenhändler und das nächtliche Treiben in ihrer Welt. Das Buch zur Fotoserie ist in fünf verschiedenen europäischen Verlagen erschienen, mehr Informationen auf kirill-golovchenko.com.

Bitter Honeydew Kirill Golovchenko Kehrer 2015, 76 S., 38 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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