Ist die Demokratie, die wir haben, in der Krise? Durch den von Gudrun Hentges herausgegebenen Sammelband erfahren wir, wie sich die deutsche und österreichische Politikwissenschaft mit der Frage auseinandersetzt. Zwei Krisendiagnosen gibt es, die eigentlich recht verschieden sind, obwohl man sie auch als zwei Seiten desselben auffassen kann. Die eine Diagnose geht von der ökonomischen Krise aus, die andere von der Frage, was es mit dem Rechtspopulismus auf sich hat. Verhalten sie sich wie „Basis und Überbau“ zueinander?
Wie in Westeuropa die ökonomische Krise 2008 ff. zur Schwächung der Legislative und Stärkung der Exekutive führte, hat Felix Sassmannshausen anschaulich dargestellt. Die niederländische Regierung zum Beispiel musste unter h
te unter hohem Zeitdruck einen „hochkomplexen Deal“ mit einer Bank eingehen. In den Stunden der Entscheidung gab es eine Telefonkonferenz mit ausgewählten Vertretern der Parteien. Hinterher stimmte ein Parlament zu, das keine Wahl mehr hatte, denn Ablehnung hätte die Krise verschlimmert. Die Lage in Osteuropa ist nicht ganz vergleichbar. Wie Dieter Segert nachzeichnet, sehen sich die dortigen Wählerinnen und Wähler in ihren Erwartungen enttäuscht. Sie hatten geglaubt, mit der Demokratie zugleich auch den Lebensstandard des Westens zu bekommen. Tatsächlich sind bei einer ungarischen Befragung 2009 aber nur acht Prozent der Meinung, es gehe ihnen heute besser als im Realsozialismus. Hier wie fast überall im Osten hat sich gezeigt, dass von der Transformation nur die Unternehmer und die politische Klasse, der man Korruption und völliges Versagen vorwirft, profitierten. 2010 wird Viktor Orbán nach achtjähriger Pause zum zweiten Mal Ministerpräsident. Er beginnt nun, den Staatsapparat autoritär zu instrumentalisieren.Bezug auf Carl SchmittWas den deutschen Rechtspopulismus angeht, ist die Erörterung von Hentges und Georg Gläser am wichtigsten. Sie schreiben in ihrem Fazit, schon früher hätten sich vor dem Hintergrund multipler Krisen „Diskurse über verschiedene Varianten von Demokratie“ entwickelt. Diejenigen, die heute hierzulande von den Denkfabriken und Zeitschriften der Neuen Rechten gepusht werden, sind von Carl Schmitt, dem Kronjuristen der Nazis, inspiriert. Sie entlehnen ihm ein Konzept direkter Demokratie, das bei Schmitt auf die Identität eines Führers mit seinen Wählern hinausläuft, im Übrigen auf einen Identitäts- und völkischen Homogenitätsbegriff, der die „Ausscheidung und Vernichtung“ von Fremden einschließt. Die heutigen rechten Autoren und die ihnen folgende AfD übersetzen das in Volksentscheide, wie sie auch von Grünen und Linken gefordert werden. Die Lage wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass Schmitt auch von links rezipiert wurde. Der Fall Antonio Gramsci, Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei, liegt ähnlich: Dafür, dass die Rechten sich sein Konzept von Hegemonie zunutze machen, die Einsicht also, dass politische Macht nur erlangt werden kann, wenn vorher die gesellschaftliche Mehrheit kulturell überzeugt wurde – Gramsci nennt es Hegemonie, die Rechten sagen „Metapolitik“, aber auch der marxistische Philosoph Alain Badiou bedient sich dieses Begriffs –, sind sie von links wegen „Diskurspiraterie“ gescholten worden. Aber haben nicht auch die linken Autoren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dazu aufgerufen, ideologische Elemente aus dem Diskurs des Gegners herauszubrechen?Schon weil die AfD der etablierten politischen Bildung den Kampf angesagt hat, ist man dankbar, auch über deren aktuellen Stand viel zu erfahren. Wer sie noch, wie der Rezensent, aus der Zeit vor 50 Jahren in Erinnerung hat, ist überrascht und erfreut über die Fortschritte, die es seitdem gegeben hat. Sie konzentriert sich heute auf die Frage der Integration, wobei Malte Kleinschmidt und Dirk Lange betonen, dass Migration längst keine Ausnahme mehr, sondern „ein Strukturmerkmal“ moderner Gesellschaften sei. Falsch sei daher „die Vorstellung einer wie auch immer gearteten Homogenität des Einwanderungslandes, die durch die Migration gestört“ werde. Unter Integration verstehen sie folglich einen Prozess von Handlungen der Eingesessenen wie der Migrantinnen selber; in ihm werden Normierungen in Frage gestellt, die Grenzen des Zugehörigkeitsregimes unterlaufen und um die Ausweitung von Teilhabe gekämpft. Und das ist auch ihr Begriff von politischer Bildung.Der Band ist dadurch wertvoll, dass er zum Nachdenken anregt. Die mehr ökonomisch orientierten Anfangsbeiträge zuspitzend könnte man sagen, dass für überhaupt alle Akteure – Unternehmer, Banken, Abgeordnete und Regierende – in der Krise des Spätkapitalismus die Handlungsspielräume schwinden, das heißt: gegen null tendieren, sofern über den Kapitalismus nicht hinausgedacht wird. Was natürlich keinem in den Sinn kommt. Demokratie heißt wählen können: Hat uns nicht Gottfried Wilhelm Leibniz gelehrt, dass selbst der allmächtige Gott, wenn er wählt, sich an das halten muss, was möglich ist? Und wenn nun ein Punkt erreicht wird, wo es kapitalismusimmanent wahr wird, dass „there is no alternative“? Es ist noch nicht geschehen, aber wir wissen schon von ihm, denn er hat seinen Schatten vorausgeworfen. Darin liegt die Gefährlichkeit der Rechtspopulisten: Heute noch eine Minderheit, können sie, wenn die Krise sich verschärft, auf einmal ganz anders dastehen.Von Nationalstolz keine Spur?Wir sollten dann auch ideologisch vorbereitet sein. Gerade im Zusammenhang mit dem Begriff der „Homogenität des Einwanderungslandes“ deuten sich Probleme an. Natürlich muss er entschieden zurückgewiesen werden. Zu sagen, dass eine Demokratie nur möglich ist – man denke an das heutige Ägypten –, wenn alle Beteiligten ein gewisser kultureller Konsens eint, ist aber nicht dasselbe. So steht es in den Federalist Papers, einem Gründungsdokument der USA, und es bleibt auch dann wahr, wenn diese älteste westliche Demokratie sich derzeit von ihrem eigenen Prinzip abzuwenden scheint. Wenn das aber so ist, wie soll man dann die Leipziger Studie zu Autoritarismus beurteilen? Wie wir von Kazim Celik, Elmar Brähler und Oliver Decker erfahren, ist die Befragungstechnik, die ihr zugrunde liegt, dem Ansatz von Pippa Norris gefolgt, hat aber deren Grundfrage „bei der Analyse ausgeschlossen“, weil sie für Deutschland untragbar sei: Norris unterstellt, dass eine Demokratie zuallererst eine gewisse diffuse Zustimmung brauche, die sich etwa im Nationalstolz äußere. In Deutschland, lesen wir, werde Nationalstolz aber „oft Rechtsextremismus-Konzepten zugeschrieben“.Man kann die Kategorie nicht übernehmen, das stimmt. Aber gar nichts an ihre Stelle setzen? Wir hätten dann ein Loch, zugestopft mit dem westlichen Lebensstandard, auf den Osteuropa vergeblich wartete und mit dem es auch in Deutschland nach der nächsten ökonomischen Krise vorbei sein könnte. Was dann? Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, wendet sich in seinem Beitrag gegen den „Dialog-Fetisch“, denn er sei „ein Signal der Akzeptanz für Themensetzungen von rechter Seite, die so nicht toleriert werden sollte“. Um einen „Dialog“ geht es sicher nicht. Doch der Frage auszuweichen, worauf sich eine deutsche Demokratie soll stützen können – selbst noch in der Krise –, wenn nicht auch auf nationale Traditionen, ist keine Option. Die Welt besteht heute nicht mehr aus Nationen, vielmehr aus Weltgesellschaften. Das heißt aber doch nur, dass sie dasselbe geworden sind: globalisierte Nationen, nationale Weltgesellschaften. Deutschland ist heute die Gesellschaft, die sich von dem deutschen Weg abwandte, der zu Auschwitz geführt hat. Auf Basis welcher anderen Wege, die es in der deutschen Geschichte auch gab, ist es möglich gewesen? Das sollten wir herausarbeiten.Placeholder infobox-1
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