Noch viel grüner werden

Wahlsieg Wenn es den Grünen ernst ist, kommen sie nicht darum herum, der Wählerschaft nun die Wahrheit zu sagen
Ausgabe 22/2019
Nett sind sie ja, die Grünen. Aber können sie auch so radikal sein, wie sie sich geben?
Nett sind sie ja, die Grünen. Aber können sie auch so radikal sein, wie sie sich geben?

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Den Grünen scheint die Zukunft zu gehören, in Deutschland mindestens, wenn sie dort schon heute von den unter 45-Jährigen zur stärksten Partei gewählt werden. Sie sind freilich im ganzen Land nur stark, weil sie vor allem in Westdeutschland überzeugen. Aber auch dass die AfD nicht so gut abschnitt, wie deren Führung erhofft hatte, dürfte vor allem Verdienst der Grünen sein. Standen sie doch sehr klar für eine Politik nicht nur gegen die Klimakatastrophe, sondern auch für die Verteidigung der Europäischen Union. Was in ihrem Europaprogramm steht, ist ja wahr: Wenn der Sozialstaat abgebaut wird, ist nicht Europa schuld, sondern die jeweilige Regierung, und besonders die deutsche, deren Macht auf andere europäische Staaten ausstrahlt. Der deutsche Regierungswechsel unter ökologischen wie sozialen Vorzeichen und die Stärkung der europäischen Einheit sind daher Ziele, die sich durchaus nicht widersprechen, vielmehr gehören sie unbedingt zusammen.

Der Erfolg der Grünen ist auch keineswegs unverdient. Dass sie schon bisher etwas bewegt haben, ist etwa am Atomausstieg abzulesen, zu dem die Kanzlerin nach der Havarie in Fukushima umschwenkte. Sie hätte das nicht getan, wäre nicht der grüne Wahlsieg in Baden-Württemberg zu befürchten gewesen, der dann trotzdem eintrat. Sind sie nicht überhaupt die einzige Partei seit langem, die in Deutschland Positives bewirken konnte? Das trifft auch in ökologischer Hinsicht zu, denn man muss ihnen zugestehen, dass sie es verstanden haben, in sehr großen Teilen der Bevölkerung sehr viel Sensibilität für die ökologischen Probleme zu wecken. Der Vorwurf, sie verschafften Leuten, die es gar nicht verdienen, ein gutes Gewissen – nur wegen der Mülltrennung oder weil sie im Bioladen einkaufen –, besteht zwar zu Recht. Aber sie haben damit den möglichen nächsten Schritt vorbereitet. Ihre wachsende Wählerschaft verfügt nun nämlich über die Frage, was eine wirklich wirksame ökologische Politik wäre. Und nur weil die Frage bewusst geworden ist, kann gehofft werden, dass auch die Antwort nicht nur gefunden, sondern dann auch öffentlich verstanden werden wird. Diese günstige Situation besteht vorerst nur in Deutschland – es ist grünes Verdienst.

Unbefriedigend ist die Politik der Grünen deshalb, weil sie der offensichtlichen Ursache der Klimakatastrophe ausweicht. Das von ihnen propagierte Warten auf eine Revolution der technischen Effizienz in den kapitalistischen Betrieben ist nicht nur unzureichend, sondern nützt isoliert überhaupt nichts. Denn dieselben Betriebe sind immer auch bestrebt, immer mehr Waren zu verkaufen. Im Zusammenwirken führen beide Faktoren nicht zur Senkung, sondern zur Erhöhung der Schadstoff-Emissionen. Wenn beispielsweise ein Auto dank technischer Kniffe weniger Benzin verbraucht, verbessert sich nur die Ökobilanz des einzelnen Fahrzeugs. Da seine Nutzung aus demselben Grund billiger wird, können die Unternehmen mehr Käufer gewinnen, die Automenge nimmt also zu, und damit der Schaden. Nur eine Lösung gibt es, die Menge muss sinken. Und das gilt nicht nur für Autos. Eine Begrenzung der Waren ist aber mit der Logik des Kapitals unvereinbar. Das wollen die Grünen nicht wahrhaben, denn eine Politik gegen die Logik des Kapitals wäre konfliktreich und würde wohl viele Wähler und Wählerinnen auf kurze Sicht überfordern. Auf lange, ja mittelfristige Sicht dafür umso weniger.

Wenn es den Grünen ernst ist, kommen sie nicht darum herum, der Wählerschaft die Wahrheit zu sagen. Irgendwann wird die ganze Industrie auf Sonnen- und Windkraft umgestellt sein, aber darauf können wir nicht warten: Die Warenmenge muss jetzt sinken. Und dafür muss die Gesellschaft sich aktivieren, statt dass bloß Einzelne passiv „verzichten“. Nötig wäre es, eine freie und allgemeine Wahl anzustreben, in der sich die deutsche Gesellschaft darauf festlegt, den ihr zustehenden ökologischen Fußabdruck von 1,8 Hektar pro Person nicht zu übersteigen. Wird die Wahl jährlich abgehalten, werden früher oder später die Ökologen gewinnen. Parallel müssen sie konkret aufzeigen, worin ein gutes Leben jenseits des Konsumismus besteht. Einen schnelleren Weg gibt es nicht.

Und nur wenn er beschritten wird, kann man auch den Osten – Deutschlands wie ganz Europas – für die Ökologie gewinnen. Es ist doch klar, weshalb östliche Regionen mehr als westliche nach rechts driften: weil die demokratisch-kapitalistische Alternative zum Moskauer Kommunismus nicht gehalten hat, was sie versprach. Nun wollen die Menschen radikal protestieren, und das scheint nur noch in rechter Artikulation möglich zu sein. Am radikalsten ist aber, wer sich, ohne zum Stalinismus zu regredieren, ans heiße Eisen Kapitalismus herantraut. Das ist heute gleichbedeutend damit, die ökologische Katastrophe stoppen zu wollen.

Die Nettigkeit einer Annalena Baerbock scheint zu solcher Radikalität gar nicht zu passen. Aber nett zu sein ist im Westen nicht falsch. Nur sollte sich die grüne Vorsitzende nicht so hilflos zeigen wie am Sonntag bei Anne Will. Als ihr die Unwirksamkeit grüner Politik vorgehalten wurde, schien sie auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Und auch die anderen Teilnehmer der Gesprächsrunde wussten von nichts. Das war nicht Bosheit. Nein, man wird sich noch oft wiederholen müssen, denn die Wahrheit ist längst nicht bekannt genug.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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