Waffen eines Drachen

Musik 1967 verschleppte der südkoreanische Geheimdienst den Komponisten Isang Yun aus Westberlin. Eine Ausstellung und eine Konzertreihe erinnern nun an sein Wirken
Ausgabe 36/2017

„Wenn in Ostasien eine schwangere Frau von einem Drachen träumt, so bedeutet das, dass ihr Kind ein besonderes Schicksal haben wird.“ Dieser Satz steht in Luise Rinsers Gesprächsbuch über den südkoreanischen Komponisten Isang Yun, der am 17. September 100 Jahre alt geworden wäre. Die schwangere Frau war seine Mutter. Yun wohnte in der zweiten Hälfte seines Lebens in Europa, überwiegend in Berlin, wo er 1995 starb.

Das Musikfest Berlin widmet Isang Yun in diesem Jahr einen Schwerpunkt. Am 17. September, dem letzten Tag des Festivals, werden zwei Orchesterkonzerte, ein Kammerkonzert und der Porträtfilm November-Elegie von Barrie Gavin (1996) an den Komponisten erinnern. Die Ehrung gilt einem Mann, der nicht nur avancierte Musik geschrieben, sondern zwischen den Kulturen vermittelt hat und der – davon muss zuerst die Rede sein – politisch verfolgt wurde. Rinsers Buch heißt Der verwundete Drache: Dass Yuns Mutter diese Verwundung geträumt haben soll, bedeutete ein schweres Schicksal.

Über die Rolle von Traumberichten in der ostasiatischen Kultur wissen wir nichts, aber Yuns Schicksal kennen wir und erschrecken darüber. In seiner Kindheit war Korea von Japan besetzt. Er sah, wie die japanische Polizei die alten koreanischen Namen von den Grabsteinen kratzte und sie immer wieder erneuert wurden. Da Kinder unverdächtig waren, wurde er nichtsahnend als Bote zwischen Widerstandsgruppen eingesetzt. Mit 17 ging er gegen den Willen seines Vaters nach Japan, weil er nur dort westliche Musik studieren konnte. Als er bei der Zimmersuche in Osaka an vielen Türen das Schild fand: „Zimmer zu vermieten, nicht an Koreaner“, erwachte sein politisches Bewusstsein. Nach dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg nahm er am bewaffneten Widerstand teil, wurde 1943 verhaftet und gefoltert – nicht zum letzten Mal in seinem Leben.

1955 erhielt er für frühe Kompositionen den Kulturpreis der Stadt Seoul und ging nach Europa, um dort weiterzustudieren. Er wollte nach drei Jahren zurückkehren, wurde aber bald zu den bedeutenden Avantgarde-Komponisten gerechnet und blieb. Von 1957 an lebte er in Westberlin. Doch er litt darunter, dass in seiner Heimat eine Militärdiktatur errichtet wurde und wollte zu ihrer Beseitigung und zur Wiedervereinigung seines Landes unter sozialistischen Vorzeichen beitragen.

Gefoltert, wachgespritzt

1963 reiste er nach Nordkorea, wo er sich die alten Königsgräber ansehen konnte, die ihn schon 1960 zu seiner Komposition Symphonische Szene inspiriert hatten, und half beim Aufbau der musikalischen Infrastruktur. Unter dem Vorwand, er sei ein Spion, wurde er deshalb 1967 vom südkoreanischen Geheimdienst aus Westberlin verschleppt, in Seoul gefoltert und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Intervention von Künstlern und Intellektuellen aus aller Welt bewirkte, dass er nach zweieinhalb Jahren „begnadigt“ wurde und nach Deutschland zurückkehren konnte.

„Ich war damals extrem herzkrank und konnte kaum die Entführungsreise ertragen“, erzählte Yun 1986. „Dann habe ich zwei, drei Stunden in einem Einzelzimmer gewartet, und danach begannen sie mich zu schlagen. Zwei Tage lang haben sie mir ein feuchtes Tuch aufs Gesicht gepresst und Wasser darüber geschüttet. Ich konnte kaum atmen, und so wurde ich sechs-, siebenmal ohnmächtig. Dann kam ein Arzt von der Folterabteilung und gab mir Spritzen, damit ich wieder wach wurde.“

Man glaubt es kaum: Nach der Folter komponierte Yun im Gefängnis. Seine komische Oper Die Witwe des Schmetterlings, nach einer chinesischen Novelle des 16. Jahrhunderts, ist dort entstanden. „Notenpapier, Bleistift und einen Radiergummi bekam er aus Westberlin“, berichtet Luise Rinser. Sie fragt, wie jemand unter solchen Umständen Musik aufschreiben kann: „Er sagte mir, er habe immerzu Musik ‚gehört‘, schöne Musik, die ihn geradezu glücklich machte.“

Yuns Verständnis von Musik wurzelt in der alten ostasiatischen Kultur, die eine Trennung der religiösen, politischen und musikalisch-technischen Dimensionen dieser Kunst gar nicht zulässt. Sicher war das ein Grund, weshalb sie ihm so viel half in den düstersten Stunden seines Lebens. Schon als Kind kannte er die schamanistische Kosmologie, derzufolge die Seele mittels der Musik durch den Raum transportiert und geheilt wird. Dann wurde die taoistische Philosophie für ihn wichtig. „Wenn ein Asiate erkennt, dass seine Todesstunde gekommen ist“, sagt Yun, „dann nimmt er es hin, das ist die Natur, in jedem Leben ein Ausgleich.“ Im Gefängnis hatte er seinen Tod erwartet.

Wenn man seine Musik der 1960er Jahre heute hört, teilt sich dieser Glaube nicht sofort mit. Damals urteilten manche zwar, sie sei als asiatische befremdend. Das waren aber Leute, denen die europäische Avantgarde fremd blieb, in deren Sprache Yun an die alte Ritualkunst seiner Heimat erinnern wollte. Tatsächlich glaubt man zunächst weiter nichts als die Cluster- und Klangflächenmusik jener europäischen Jahre zu hören; das Missverständnis liegt nahe, er habe auf die kompositorische Entwicklung Krzysztof Pendereckis und Györgi Ligetis nur reagiert, außerdem auf Giacinto Scelsi, der 1959 vier Orchesterstücke „für eine einzelne Note“ schrieb. Es ist aber eher umgekehrt: Scelsi hatte sich mit östlichen Philosophien auseinandergesetzt und auch die Flächenklänge brachte Yun aus seiner Heimat schon mit. Er war eher selbst anregend für europäische Künstler. Umso mehr muss man seine Leistung im kulturellen Dialog würdigen. Yun schrieb seine Kompositionen für die Instrumente des europäischen Orchesters. Er sprach auch von Impulsen, die er aus den USA empfangen habe, so von John Cage, der ihn zur Freiheit seines Komponierens ermutigt habe – das aber doch serielle Züge trägt –, und von dem Maler Jackson Pollock.

Totgeschwiegen

Was er vom Westen empfing, ist eine gewisse Gerichtetheit seiner Musik nach oben, die man auf das Tao nicht zurückführen kann: Die Einheit des Tao ist zwar immer in Wandlung begriffen, hat aber keinen teleologischen Charakter. Ein Beispiel gibt die Komposition Dimensionen für großes Orchester mit Orgel aus dem Jahr 1971. In ihren Klangflächen bedeutet der Bereich der obersten Tonhöhen, gespielt von Orgel und Streichern, den Himmel: „Der Orgelklang“, erläutert Yun, „ist in dem Stück immer sehr nah, zum Greifen nahe, aber er entzieht sich immer wieder. Immer ist er ein kleines Stück höher, als der Mensch greifen kann.“

Als sich Yuns Ruhm schon zur Zeit der Militärdiktatur in Südkorea herumsprach, wurde er dorthin eingeladen. Gern hätte man seine im Gefängnis geschriebene Oper aufgeführt. Er wollte aber nur kommen, wenn sein Land demokratisch geworden wäre und alle politischen Gefangenen befreit sein würden. Danach schwiegen ihn die Schulbücher lange Zeit tot, jetzt aber, seitdem mit Moon Jae-in ein liberaler Präsident die Regierung führt, darf er wieder gedruckt werden. Moon hat kürzlich sogar ein Bäumchen gepflanzt, an Isang Yuns Grab in Berlin.

Info

Die Reihe Isang Yun 100 im Rahmen des Musikfest Berlin läuft bis 17. September. Die begleitende Ausstellung, kuratiert von Walter-Wolfgang Sparrer, ist noch bis 30. September in der Philharmonie zu sehen

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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