Am Baukonzern Evergrande hängen mehr als vier Millionen Jobs
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Ein neues Gespenst geht um die Welt, ein chinesisches namens Evergrande. Börsenanalysten pfeifen es von den Dächern: Wenn dieser Player fällt, steht uns eine Finanzkrise ins Haus, die sich gewaschen hat. China und die Welt würden in ungeahnte Turbulenzen geraten. Das passt zu der seit jeher gepflegten Erzählung, Chinas mutmaßliche Bubble-Ökonomie schließe globale Erschütterungen nicht aus.
Evergrande ist ein Immobilienkonglomerat, gegründet 1996, um Grundstücke zu pachten, Häuser zu bauen und Wohnungen zu verkaufen, darin bestand das Kerngeschäft. 2009 ging das Unternehmen an die Börse, ein Riese mit mehr als 200.000 Beschäftigten und derzeit über 1.300 laufenden Immobilienprojekten für 280 Städte in g
8;dte in ganz China. Mit Tausenden von Subunternehmern gibt der Konzern mehr als vier Millionen Leuten Jobs.Jetzt aber steckt der Finanzkonzern in Schwierigkeiten. Gut 300 Milliarden Dollar (etwa 260 Milliarden Euro) Schulden hat er angehäuft, und trotz etlicher Manöver fällt die Tilgung immer schwerer. Kurzfristig wäre Liquidität von 700 Millionen Dollar willkommen, da im September fällige Zinszahlungen an chinesische Gläubigerbanken nicht rechtzeitig geleistet wurden. Zudem hatten Konzerntöchter Schwierigkeiten, ihre Zulieferer und Beschäftigten zu bezahlen. Der Versuch, den Büroturm des Konzerns in Hongkong für zwei Milliarden Dollar loszuschlagen, ging schief. Um sich zu sanieren, müsste Evergrande im großen Stil Immobilien abstoßen, aber niemand will die haben.Vor Wochen schon stürmten Tausende von wütenden Investoren, die sich um ihre Eigentumswohnungen betrogen sahen, die Evergrande-Zentrale in Shenzhen. Die Bilder von weinenden, schreienden, tobenden Menschen waren ein Alarmzeichen für die chinesische Regierung, die Demonstrationen der Mittelklasse nicht liebt. Noch misslicher für den Konzern ist der Absturz seiner Aktien an den chinesischen Börsen, beinahe 85 Prozent hat das Evergrande-Papier 2021 schon verloren. Anfang Oktober wurde prompt der Handel an der Hongkonger Börse gestoppt. Was sich die Rating-Agenturen Fitch und Moody’s nicht zweimal sagen ließen und die Kreditwürdigkeit des Konzerns herabstuften, da ein Kreditausfall wahrscheinlich sei. Evergrande trat die Flucht nach vorn an und drückte seinen Privatanlegern, darunter fast 100.000 Konzernangestellte, die eigenen, hochriskanten Anleihen und Aktien in die Hand, was den meisten schwer missfiel.Dabei ist Evergrande nicht der einzige chinesische Immobilienriese, mit dem es abwärtsgeht. Fantasia, deutlich kleiner, musste am 4. Oktober die Frist für die Rückzahlung einer Anleihe von 206 Millionen Dollar verstreichen lassen. Daraufhin sackten die Anleihen der Firma um 80 Prozent ab. Kaum anders bei Sinic: Das Unternehmen kann einen zum 18. Oktober fälligen Kredit von 246 Millionen Dollar ebenfalls nicht ablösen und ist so gut wie pleite. Der Beweis für die gefährliche Schwäche eines ganzen Systems, bei dem alte Kredite bei Fälligkeit nur durch neue Kredite refinanziert werden. Das mag jahrelang gut gehen, wie bei den „ewigen Staatsschulden“ so mancher EU-Staaten. Doch wenn der Immobilienboom stockt, Entwicklungsprojekte und Kredite zurückgefahren werden, kommen Immobilienunternehmen schnell in die Bredouille. Country Garden etwa, kein kleines Licht auf dem chinesischen Immobilienmarkt, wollte 105 Millionen Dollar an fälligen Krediten von Fantasia zurück. Fantasia konnte nicht zahlen, und prompt fiel der Aktienkurs des Gläubigers um fast fünf Prozent.Zu viele Wohnungen gebautWeshalb Evergrande in existenziellen Nöten steckt, ist schnell erklärt. Chinas Immobilienboom ist seit Jahr und Tag ein Kraftquell für ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Der chinesische Staat verdiente Unsummen mit dem Verkauf oder der langfristigen Verpachtung von Grund und Boden, die Grundstückspreise stiegen ununterbrochen. Nur zu bereitwillig finanzierten Chinas Geldinstitute diese Branche, weil steigende Immobilienpreise viel Kapital in den Immobiliensektor lockten. Zeitweise gingen bis zu 30 Prozent der Umsätze in der chinesischen Volkswirtschaft auf Immobiliengeschäfte zurück. So viel hatte nicht einmal Spanien in den Boom-Jahren vor der Finanzkrise erreicht. Heute sitzt die Volksrepublik auf einem Berg von Eigentumswohnungen, die niemand mehr bezahlen kann.Allerorten bemüht man momentan die Analogie zum Fall der Bank Lehman Brothers im Jahr 2008, der eine Weltfinanzkrise nach sich zog. Doch ein „Lehman-Moment“ wird es bei einer absehbaren Evergrande-Pleite nicht geben. Relativ bescheiden ist die Auslandsverschuldung des Unternehmens, nur 20 Milliarden Dollar schuldet man Gläubigern im Ausland wie Blackrock, HSBC, der Royal Bank of Canada oder der Schweizer UBS. Weitaus wichtiger sind die Inlandsverbindlichkeiten bei Geldhäusern, Versicherungen und privaten Investoren. Und das ist der springende Punkt: Eine Bankenkrise, eine Kettenreaktion im Finanzsektor, will die Regierung von Premier Li Keqiang verhindern. Immerhin hat sich Evergrande bei 128 Banken und 120 weiteren Gesellschaften in China erhebliche Summen geliehen, doch sind chinesische Immobilienkäufer – anders als in den USA 2008 – nicht verschuldet. Verwendet wird Eigenkapital, Hypotheken spielen kaum eine Rolle, es gibt auch kein Problem mit verbrieften Wertpapieren, die auf den Finanzmärkten der Welt von Hand zu Hand gehen könnten.Zudem verfolgt der Staat seit geraumer Zeit einen deutlich restriktiveren Kurs. Seit 2017 ist die Finanzaufsicht reorganisiert als eine Superbehörde, um die Finanzmärkte an die Kandare zu nehmen. Dem Immobiliensektor wurden neue Regeln verpasst. Inzwischen ist nur noch eine einzige Zweitwohnung pro Person erlaubt – aus britischer oder US-Sicht der blanke Sozialismus. Die Gebaren von Evergrande hat die nationale Finanzaufsicht deshalb seit längerem mit einigem Unbehagen verfolgt. Inwieweit die Regierung nunmehr eingreift, um den großen Knall auf dem Immobilienmarkt zu vermeiden, wird sich zeigen. Klar ist, ein wachsender Unmut in Chinas Mittelklasse sollte nicht unterschätzt werden. Jedes Immobilienprojekt, das abstürzt, lässt eine kopf- und lautstarke Gruppe von Wohlhabenden zurück, die sich schwer verzockt haben. Ihr Geld ist weg – für Wohnungen, die nicht gebaut wurden und absehbar nie mehr gebaut werden. Die nicht genutzt und vor allem nicht mehr weiterverkauft werden können.Ohne Evergrande auch nur zu erwähnen, hat die Zentralbank in Peking vor Tagen zur Stabilisierung des Immobiliensektors aufgerufen. „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zum Spekulieren“, ließen die Zentralbanker wissen. Um zugleich anzudeuten, privaten Bauinvestoren im Fall des Falles zu helfen. Daraufhin stieg die Evergrande-Aktie an der Hongkonger Börse wieder um 4,7 Prozent. Im Vorgriff auf eine mögliche Verstaatlichung des Konzerns? Womit kaum zu rechnen ist, sehr wohl aber mit dem Erwerb von Evergrande-Anteilen durch staatseigene Firmen wie China Vanke oder China Jinmao Holdings. Aus dieser Richtung sind Angebote zu erwarten, die der Konzern nicht ablehnen kann. Entscheidend wird sein, dass die Regierung die Evergrande-Krise nutzen will, um den gesamten Immobiliensektor neu auszurichten. Der Staat kann Unternehmen retten, wenn er das möchte – siehe den Versicherungsriesen Anbang – oder Firmen wie den Amazon-Rivalen Alibaba unter Kuratel stellen.Allerdings steht Präsident Xi Jinping vor einem Dilemma, das ihm der Gang des chinesischen Kapitalismus beschert. Die Finanzmärkte unter Kontrolle bringen, den Immobiliensektor als Wachstumsmotor drosseln, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt stoppen, Chinas Makroökonomie anders ausrichten – auf privaten Konsum von eigener Produktion –, das ist das eine, aber ohne massive Verluste für Millionen von Immobilienbesitzern kann das nicht gehen, wie der Fall Evergrande zeigt. Wenn die Immobilienpreise langsamer steigen als gewünscht oder gar fallen, geht das bei Millionen aus dem Mittelbau der Gesellschaft an die Altersvorsorge. Wer darauf spekuliert hat, die aus dem Gewinn zu bestreiten, der beim Wiederverkauf einer Eigentumswohnung erzielt wird, fühlt sich düpiert und wird dem Staat die Schuld geben, der den schönen Boom abgewürgt hat. Xi Jinping hat sich und die KP auf den Kurs „Prosperität für alle“ eingeschworen, um soziale Ungleichheit einzuebnen, ohne Rückhalt bei der Eigentümerklasse zu verlieren, die ihren Aufstieg der scheinbar immerwährenden Konjunktur der chinesischen Ökonomie verdankt.