Nach der Krise ist vor der Krise. Nach einem anhaltenden Aufschwung kommt früher oder später die nächste Krise, so die konventionelle Weisheit, die zumindest heterodoxe Ökonomen teilen. Wann und wo die nächste weltweite Finanzkrise kommt, können wir nicht wissen. Dass sie kommt, ist gewiss.
Dabei scheint zehn Jahre nach der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt wieder in schönster Ordnung: Die Weltwirtschaft wächst mit ganz erklecklichen Wachstumsraten, und das Wachstum scheint sich sogar weiter zu beschleunigen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat im Laufe des vergangenen Jahres seine Wachstumsprognosen für die gesamte Weltwirtschaft mehrfach nach oben korrigiert: Er erwartet nun einen lang anhaltenden Aufschwung mit einer weltweiten Wachstumsrate von 3,4 Prozent in 2017 und 3,5 Prozent oder mehr im Jahre 2018. Auch Indikatoren wie die Einkaufsmanager-Indizes, die unter empirischen Konjunkturforschern als die verlässlichsten Frühindikatoren gelten, weisen auf einen unerwartet starken, breiten Aufschwung hin. Das weltweite Wirtschaftswachstum, das sich in diesen Indikatoren andeutet, könnte vier bis fünf Prozent erreichen.
Erstaunlich, aber wahr: Die EU und vor allem die Eurozone gehören zu den neuen Wachstumslokomotiven, der Euroraum wird 2017 einen realen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,2 Prozent erreichen, das stärkste Wachstum seit zehn Jahren. Die EU-Kommission konnte ihre Wachstumsprognose für 2017 von 1,7 Prozent kräftig nach oben korrigieren, für die gesamte EU der 28 wurde die Prognose von 1,9 auf 2,3 Prozent erhöht. Jubeln und Schulterklopfen allerseits. Die USA wachsen kräftig um 3,3 Prozent, Chinas Wachstumsrate hat sich auf einem Niveau von um die sechs Prozent konsolidiert. Japan, die drittgrößte Ökonomie der Welt, erlebt die längste ununterbrochene Wachstumsphase seit der Jahrtausendwende.
Wachstumsraten um und über zwei Prozent sind für kapitalistische Ökonomien wichtig, denn erst bei deratigen Werten wächst auch die Beschäftigung. Bei Wachstumsraten, wie sie die Eurozone und die EU in diesem und im nächsten Jahr erreichen werden, kann man annehmen, dass tatsächlich mehr dauerhafte Jobs entstehen und das Arbeitsvolumen, also die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden pro Jahr, zunimmt. Bleibt das Wachstum für eine Weile auf diesem Niveau, wird sich die Zahl der Dauerarbeitslosen merklich verringern.
Das Prekariat wächst
Die USA haben bei einer Wachstumsrate von 3,3 Prozent in 2017 schon einen Rückgang der offiziellen Arbeitslosenquote auf 4,1 Prozent verzeichnen können. In Deutschland ist die Arbeitslosenzahl im vergangenen Jahr auf durchschnittlich 2,5 Millionen oder 5,7 Prozent gesunken, für 2018 wird eine weitere Senkung der Arbeitslosenquote auf 5,3 Prozent erwartet. Doch die sinkenden Arbeitslosenquoten bilden die tatsächlichen Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt nur sehr ungenau und unvollständig ab, hinzu kommt das obligatorische künstliche Herausrechnen vieler De-facto-Arbeitsloser beziehungsweise Unterbeschäftigter aus der Arbeitslosenstatistik.
Dazu kommt, dass die Zahl der Arbeitsstunden pro Beschäftigten sinkt. Dafür machen die IWF-Ökonomen in erster Linie die Zunahme unfreiwilliger Teilzeitarbeit verantwortlich. Und der Prekarisierungsdruck hält an: Weiterhin wird Arbeit umverteilt und zum Teil an nur formell selbstständige Auftrag- statt Arbeitnehmer weitergereicht. Kein Wunder, dass die Arbeitseinkommen bisher real kaum steigen und auch das nominale Lohnwachstum mit Ausnahme von Deutschland und Japan hinter dem Vorkrisenniveau zurückbleibt. Von einem Abbau des Niedriglohnsektors kann keine Rede sein.
Wo liegen die Risiken? Die Gesamtverschuldung weltweit ist gestiegen, nicht gesunken, trotz Niedrigzinsen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind die Schulden der Staaten heute höher als je zuvor, weit höher als vor der großen Krise. Mehr noch, sie werden von den Privatschulden in den Schatten gestellt, die weit stärker gestiegen sind. Vor allem die Privatschulden der Haushalte sind explodiert, trotz des Platzens der Immobilienblase, die viele Hypothekenkredite in Rauch aufgehen ließ. Die folgenden, kurzfristigen Aufschwünge sind vor allem in den angelsächsischen Ländern überwiegend auf Pump, das heißt mit Privatkrediten, finanziert worden. Nach den Berechnungen des Institute of International Finance (IIF) beträgt die Gesamtverschuldung, also private plus öffentliche Schulden, heute schlappe 200 Billionen Euro, das entspricht etwa 325 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Der IWF hat jüngst die Gesamtschulden der 20 größten Industrie- und Schwellenländer, China eingeschlossen, auf 135 Billionen US-Dollar geschätzt; vor der Finanzkrise waren es noch 80 Billionen.
Nicht die Staatsschulden, die Privatschulden sind das größte Problem. Sie sind zwar in einigen Ländern wie den USA und Großbritannien kurzfristig abgesackt, aber dann seit 2009 wieder gestiegen und nähern sich heute wieder dem Vorkrisenniveau. Weit schwerer wiegt aber die Zunahme der Privatverschuldung in den Ländern, die von der Finanzkrise weit weniger berührt wurden als Europa und Nordamerika. In China und in Südkorea, aber auch in Australien und Kanada wächst die Kreditblase ununterbrochen und hat inzwischen schwindelnde Höhen erreicht: In China beträgt die Gesamtverschuldung heute mehr als 210 Prozent des BIP, der Löwenanteil entfällt dabei auf die Unternehmen, von denen viele in Staatshand sind. In den USA ist die gesamte Privatverschuldung inzwischen wieder auf gut 150 Prozent des BIP gestiegen, noch knapp 20 Prozent unter dem Niveau von 2008, Tendenz weiter rasch steigend. Inzwischen wachsen auch die Immobilienblasen wieder fröhlich. Die anhaltenden Börsenbooms der jüngsten Zeit tragen ihre dicken Scherflein zur Blasenbildung bei.
Draghis Angst vor den Pleiten
Selbst wenn die Privaten sich im Aufschwung rational verhielten und ihre Schulden tilgten, so rasch sie können, hätte das unliebsame Folgen in einer permanenten Schuldenökonomie. Mit jeder Hypothekrate, die vorzeitig zurückgezahlt wird, mit jedem getilgten Bankkredit schrumpft nämlich auch das Volumen der zahlungsfähigen Nachfrage, unvermeidliche Folge der heutigen Form des privaten Bankkredits, in der jeder private Kredit zugleich private Geldschöpfung und damit Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage bedeutet. Wenn alle Schuldner sich im Aufschwung rasch zu entschulden versuchen, bremst das unweigerlich den Aufschwung aus. Aber viele, die meisten sogar, können das gar nicht, da die Arbeitseinkommen nach wie vor kaum steigen. So bleiben die faulen Kredite bestehen und mehr Kredite werden notleidend, trotz Aufschwungs. Denn der geht, wie gehabt, einher mit wachsender ökonomischer Ungleichheit der Vermögen und Einkommen, wachsender Disparität zwischen profitablen, prosperierenden und unprofitablen, knapp überlebenden Firmen, zwischen Überschussländern wie dem Exportmeister Deutschland und Defizitländern.
Die OECD hat sich in einem ihrer jüngsten Berichte besorgt über ein Phänomen gezeigt, das auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) beunruhigt. Es gibt nach den Berechnungen der OECD- und BIZ-Ökonomen in Europa und weltweit eine wachsende Zahl von „Zombie-Firmen“. So nennen sie Unternehmen, die eigentlich schon längst nicht mehr lebensfähig sind, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, und die nur durch die Politik der Niedrigstzinsen über Wasser gehalten werden.
Solche Zombies sind nicht in der Lage, aus ihrem laufenden Geschäft mehr als die Tilgungsraten ihrer Kredite zu Niedrigzinsen zu erwirtschaften, und oft, in wachsender Zahl, nicht einmal das. Sie investieren nicht mehr, sie vegetieren nur noch. Sie überleben nach Ansicht der OECD-Ökonomen in der Hauptsache, weil ihre Geldgeber – Banken, die selbst schwer angeschlagen sind – es nicht wagen, ihre längst oberfaulen Kredite an diese untoten Unternehmen abzuschreiben und die Zombies zum Bankrott zu zwingen.
Zombies behindern den Aufschwung. Sie binden Kredite, die anderswo besser eingesetzt wären. Und sie bremsen die längst überfällige Wende der Geldpolitik. In Europa ist der Anteil des in Zombie-Unternehmen gebundenen Kapitals in einigen Ländern stark gestiegen. In Italien zwischen 2009 und 2013 von sieben auf 19 Prozent, in Spanien auf 16 Prozent, in Griechenland gar auf 28 Prozent.
Die BIZ schätzt den Anteil der Zombie-Firmen in den 14 wichtigsten Industrieländern auf 10,5 Prozent, fast doppelt so hoch wie vor der Finanzkrise 2007/2008. In Deutschland, wo Unternehmen traditionell stark auf Bankkredite setzen, liegt der Anteil der Zombie-Unternehmen laut OECD bei stolzen zwölf Prozent. In den Jahren 2014 bis 2016 waren es gar 15,4 Prozent der untersuchten Unternehmen, die ihre Zinskosten nicht aus dem Gewinn vor Steuern und Zinsen finanzieren konnten. Sogar mehr als in den USA, wo die Zahl der Zombie-Unternehmen seit der Krise auf zwölf Prozent gestiegen ist.
Wenn über kurz oder lang auch die EZB ihre Politik des ultralockeren und ultrabilligen Geldes beenden muss, wird es für die Zombies und deren Kreditgeber, darunter zahlreiche Zombie-Banken, mehr als eng. Die Furcht vor einer Pleitewelle, vor allem in den südeuropäischen Ländern, aber auch in Deutschland, erklärt das Zögern Mario Draghis. Denn das Argument, das bis jetzt als Erklärung für das geldpolitische Abwarten ins Felde geführt wurde, nämlich dass das zarte Pflänzchen des Aufschwungs nicht mit einer verfrühten Zinswende abgewürgt werden dürfe, hat stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Das Zombie-Phänomen illustriert einmal mehr die Misere der bisherigen Krisenpolitik. Jahrelang ist von Merkel, Schäuble und ihren Gesinnungsfreunden im Lager der Austeritätsdoktrin die falsche Krise mit falschen Mitteln bekämpft worden. Mit verheerenden Folgen. Dank dieser grundfalschen Krisenpolitik der „Rettung“ maroder Finanz- und anderer Unternehmen wurde weitgehend verhindert, dass die Krise als reinigendes Ungewitter die Verlierer im Konkurrenzkampf vom Markt fegt. Dank der ultralockeren Geldpolitik der EZB haben nicht nur die überschuldeten Mitgliedstaaten der Eurozone fast eine Billion Euro weniger an Zinsen für ihren Schuldendienst aufbringen müssen, es hat sich auch ein maroder Bankensektor am Leben erhalten, mit Banken, die auf Bergen von faulen und oberfaulen Krediten sitzen – nicht nur in Italien und Spanien. Kommt die Zinswende, die in den USA mit den ersten drei Zinserhöhungen im Jahre 2017 schon begonnen hat, auch in der Eurozone, beginnt das große Bankensterben.
Sicher ließe sich die nächste große Finanzkrise vermeiden, jedenfalls aber entscheidend abschwächen. Allerdings nur durch unorthodoxe Aktionen, die vor allem in Deutschland auf blankes Unverständnis stoßen würden. Die Zentralbanken, für uns also die EZB, müssten den Banken faule Kredite in Massen abkaufen und vernichten. Damit zugleich privat von den Banken geschöpftes Geld durch Zentralbankgeld ersetzen. Erst dann könnte die EZB auch die Zinsen wieder erhöhen, ohne Gefahr zu laufen, einen europäischen Bankenkrach auszulösen.
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