Hongkong ist seit der Rückkehr im Jahr 1997 wieder integraler Teil der chinesischen Souveränität, zudem eine Sonderverwaltungszone mit besonderem Status und begrenzter Autonomie, aber kein selbstständiges Territorium. Mit der Formel „ein Land, zwei Systeme“ wurde in der chinesisch-britischen Hongkong-Erklärung seinerzeit eine Übergangsperiode von 50 Jahren beschrieben. Kurze Zeit nach der Übergabe der Staatshoheit an China wurde das Land in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen, dem Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht stand nichts mehr im Weg.
Heute stehen alle Zeichen auf Sturm und Konfrontation. Die Beziehungen mit den Vereinigten Staaten haben sich in den vergangenen drei Jahren rasant verschlechtert. Der Handels- und Wirtschaftskrieg gegen China, den die Trump-Regierung vom Zaun gebrochen hat, geht weiter – mit Strafzöllen auf Waren, deren Wert in dreistelliger Milliardenhöhe liegt. Alle zwischenzeitlichen Erklärungen, der Konflikt sei beigelegt, sind Makulatur. Seit Ausbruch der Corona-Krise wird China von der Trump-Regierung als Hauptschuldiger für die Pandemie angegriffen und ist wirtschaftlichen Strafakten zuhauf ausgesetzt. Und das mit großem politischen Rückhalt in den USA, schließlich hat der Kongress die entsprechenden Gesetze einstimmig durchgewinkt.
Noch vor Wochen schien die chinesische Staatsführung eher zurückhaltend mit der zunehmenden Feindseligkeit umzugehen. Aber das jüngste Verhalten der USA und leider auch ihrer europäischen Verbündeten – wie die Schließung des chinesischen Konsulats in Houston, die Aufhebung von Handelsprivilegien für die ehemalige Kronkolonie Großbritanniens, das gekündigte Auslieferungsabkommen mit Hongkong, die Sanktionen gegen führende Mitarbeiter des Staatskonzerns Huawei, Strafmaßnahmen wegen der Behandlung der uigurischen Minderheit in Xinjiang – lässt Peking keine andere Wahl, als darauf hart zu reagieren. Die Schließung des US-Generalkonsulats in Chengdu deutet darauf hin. Trump hat nun die Konfrontation, von der er glaubt, dass sie ihm im Wahlkampf nützt. Welche Flurschäden damit angerichtet werden, scheint ihm egal zu sein. Die Europäer sollten sich dafür nicht vereinnahmen lassen, zumal sie von den Trump-Administration derzeit kaum als gleichwertige Partner behandelt werden. Es ist sehr die Frage, ob es im Interesse der EU sein kann, zwischen den USA und China in einem Konflikt der Weltmächte zerrieben zu werden, den manche schon als einen neuen Kalten Krieg betrachten.
US-Außenminister Mike Pompeo hat die Vereinten Nationen, die NATO, die G-7- und G-20-Staaten zum „Kampf gegen die Tyrannei“ aufgerufen, die angeblich in China herrsche. Eine neue Allianz der freien Nationen solle den USA beistehen und einen Regimewechsel in Peking bewirken. Eine Rhetorik, wie man sie zuletzt hörte, als die US-Regierung zum Sturz der Regierungen in Teheran oder Caracas aufrief. Aus China kamen und kommen derlei unsinnige Tiraden nicht. Das Außenministerium in Peking hat vor Tagen abermals betont, man wolle das eigene System keineswegs exportieren, doch lasse man sich selbstverständlich keinen Regime Change von außen aufzwingen – China führe keinen ideologischen Krieg gegen den Westen.
Leider folgen die Europäer – folgt eine willfährige deutsche Außenpolitik – auch in diesem Fall dem Willen der USA. Die dabei gezeigte moralische Entrüstung scheint von keinerlei Sachkenntnis getrübt. Immerhin war die Regierung Merkel besonnen genug, sich aus dem von den USA angezettelten Handelskrieg gegen China herauszuhalten. Sobald es allerdings um Hongkong geht, sobald sich Trump und Co. mit Verve in die chinesische Innenpolitik einmischen, ist es um das politische Augenmaß schlecht bestellt. Sich auf China als den neuen Hauptfeind einzuschießen, ist ein unverzeihlicher, kaum wiedergutzumachender Fehler. Die jüngste Eskalation beim Tit-for-Tat („Wie Du mir, so ich Dir“)-Spiel war absehbar. Sich daran nicht zu beteiligen, wäre das Mandat jeder Regierung und jedes Außenministers gewesen, der noch halbwegs zurechnungsfähig ist.
Klimapolitik nur gemeinsam
Einen Zollkrieg mit China braucht niemand. Das Land als technologische, wissenschaftliche, wirtschaftliche und finanzielle Großmacht zu ignorieren oder absichtlich schlecht zu behandeln, kann sich niemand leisten. Dass einigen Herrschaften der US-Upper-Class der atemberaubende Aufstieg Chinas zur führenden Welthandels- und Weltwirtschaftsmacht nicht passt, braucht die Europäer nicht zu kümmern. China ist nicht ihr Gegner, ganz gewiss nicht ihr Feind, sondern ein globaler Partner, der immer wichtiger wird. Ohne Kooperation mit China gibt es keine erfolgreiche Weltklimapolitik. Ohne den Schulterschluss mit China können wir der gegenwärtigen Pandemie wie den absehbar folgenden Infektionswellen nicht Herr werden – auf die USA ist in dieser Hinsicht kein Verlass.
Absurd wird die Sache, wenn man den Auslöser in Augenschein nimmt. Genau genommen und strikt völkerrechtlich betrachtet, gehen die Regelungen und Gesetze, die China in Sachen Hongkong erlässt, nur die chinesische Regierung, die Regierung der Sonderverwaltungszone und eventuell die britische Regierung als Vertragspartei des Hongkong-Abkommens etwas an, andere nicht.
Vor 23 Jahren war Hongkong für die Volksrepublik wichtiger als heute. Inzwischen beträgt sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt nur noch gut drei Prozent. Noch ist die Metropole einer der wichtigen Finanzplätze weltweit. Festlandschinesen nutzen ihn, um Vermögen ins Ausland zu transferieren bzw. außerhalb der Reichweite des chinesischen Fiskus zu parken. Für Geldwäscher ist Hongkong gleichfalls eine Domäne. Peking hat das bislang toleriert, weil über Hongkong viel Auslandskapital ins Land fließt, doch holt der Finanzplatz Shanghai enorm auf. Also könnte die chinesische Staats- und Parteiführung eigentlich abwarten, bis 2047 das Agreement mit Großbritannien ausläuft. Nur fühlt sie sich offenkundig provoziert, und das nicht zu Unrecht. Der Aufruhr auf Hongkongs Straßen geriet nicht eben friedlich, der gewalttätige Einbruch in Regierungs- und Parlamentsgebäude, die Blockade von Bahnhöfen und Flugplätzen, die zahlreichen Angriffe auf Festlandschinesen, die in den Straßen Hongkongs als angebliche Spione gejagt wurden, sind auf dem Festland nicht gut angekommen. Die chinesische Führung war klug genug, nicht direkt zu intervenieren, wohl im Wissen darum, dass derlei bei internationalen Investoren zu Abwehrreaktionen führt. Sie hat nun Gesetze verschärft, eine durchaus übliche Praxis in allen demokratischen Ländern.
Man kann den neuen Sicherheitskodex durchaus als Überreaktion beurteilen, denn eine wirkliche Gefahr geht von den Hongkonger Protesten nicht aus. Allerdings scheint das politische Establishment des Finanzzentrums derart verunsichert, dass nun sogar anstehende Wahlen um ein Jahr verschoben wurden. Augenscheinlich hat Chinas Führung nach den jüngsten Erfahrungen den Schluss gezogen, sich auf Exekutive und Parlament in Hongkong nicht verlassen zu können, wenn es um die Sicherheitsinteressen des Landes geht. Was mit dem Sicherheitsgesetz beabsichtigt ist, besiegelt indes nicht das Ende von „ein Land, zwei Systeme“, da die sozialökonomischen Verhältnisse unberührt bleiben, unabhängig davon, was Aktivisten auf der Straße und die Medien verkünden. Im Übrigen bleibt der prophezeite Exodus bisher aus, auch wenn Boris Johnson und die EU-Außenminister nun Einreiseerleichterungen verkünden.
Bei aller moralisierenden China-Kritik wird der entscheidende Kontext völlig ausgeblendet. China setzt seinen tiefgreifenden Umbau fort und verändert sich erneut in rasantem Tempo. Entwicklung und Etablierung eines Rechtsstaates, einer chinesischen Form des „rule of law“, zählen zu den vorrangigen Zielen des nächsten Fünfjahrplans, den der Volkskongress gerade beschlossen hat. Solchen Absichten folgen in China rasch Taten. Inzwischen gibt es ein funktionierendes Arbeitsrecht, mit dem Arbeitskonflikte reguliert und entschärft werden – vor 15 Jahren noch ein Desiderat. Chinesische Juristen arbeiten mit Macht an einem neuen Code Civil, gefolgt von einer Strafrechtsreform, auf die man gespannt sein sollte. Wir in Europa haben keinen Grund, in die Anti-China-Hysterie einzustimmen, die von Washington aus verbreitet wird. Wir haben allen Grund, uns auf China als den absehbar wichtigsten weltpolitischen Player dieses Jahrhunderts beizeiten einzustellen.
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