Es ist so weit, die Briten stimmen über den Brexit ab, zum zweiten Mal. Kein weiteres Referendum, dafür die Europawahl, an der eigentlich niemand teilnehmen wollte. In Westminster blockiert jeder jeden, so ist die Abstimmung am 23. Mai die einzige Chance, sich zur verfahrenen Lage der Nation zu äußern. Dabei steht der Gewinner schon fest – Nigel Farage persönlich, der das britische Publikum als Wiedergänger seiner selbst beehrt. Er war einst Führer der UK Independence Party (UKIP), die den konservativen Premier Cameron derart unter Druck setzte, dass er das EU-Referendum vom 23. Juni 2016 ausrief. Wenige Tage nach diesem Plebiszit trat Farage vom UKIP-Vorsitz zurück. Sein Lebenswerk – die Erlösung der Briten von der EU – sei vollendet.
Jetzt ist er wieder da, mit einer Partei, die nicht nur die Talkshows dominiert, sondern als Brexit Party laut Umfragen bei der anstehenden Wahl mit 34 Prozent heftig abräumen dürfte. Was besonders bei den Tories blankes Entsetzen auslöst, da sie bei nur elf Prozent verortet werden, während für Labour 22 Prozent in Aussicht stehen. Aber wen erstaunt das, wenn Farage und seine Partei klare Kante zeigen: Austritt aus der EU, und zwar sofort, ohne Abkommen. Den sich abzeichnenden Sieg sieht Farage als klare Ansage an das Unterhaus: Der No-Deal-Brexit muss wieder auf den Tisch, Großbritannien braucht nichts dringender.
Wenn kein Wunder geschieht und die stockenden Gespräche zwischen Premierministerin May und Oppositionsführer Corbyn doch noch zu einem Ergebnis führen, dann wird Farage mit seinem Anhang am 2. Juli ins EU-Parlament einziehen. Worauf er reitet, ist eine Welle der Frustration, die der endlose Streit um den EU-Abgang in Großbritannien ausgelöst hat. Farage insistiert, das „Establishment“, die Großkopfeten in London hätten „das Volk verraten“ und um die schöne neue Welt nach dem Brexit betrogen. Er sei angetreten, den Briten zu geben, was ihnen zukomme: die einfache und universell gültige Lösung, indem sie sich vor einer EU befreien, die zusammen mit den Migranten an allem schuld sei.
Nigel Farage ist Fleisch vom Fleische der englischen Upperclass, Absolvent einer der teuersten Privatschulen, in denen die elitäre Jugend der besitzenden Klasse erzogen wird. Er ist Sohn eines nicht gerade armen Börsenmaklers und ging selbst in diesem Metier auf, bevor er beschloss, Politiker zu werden. Erfolg hatte er mit UKIP und hat er jetzt mit der Brexit-Partei, weil ihm viel Geld von Spendern aus dem Ausland zufließt. Der Ausstieg Großbritanniens aus dem vereinten Europa – langfristig dessen Zerstörung – wäre laut Farage die Vollendung einer von Margaret Thatcher begonnenen Revolution, um die es der Brexit Party ebenso geht wie jenem überaus kapitalkräftigen Teil der britischen Medien, der seit Jahr und Tag kraftvoll für den Abschied von der EU trommelt.
Bloody foreigners
Farages Sympathisanten bejubeln pausenlos ihren Vorsänger, sie ahnen nicht, was ein No-Deal-Brexit auslösen kann: ein Fiasko für den Nationalen Gesundheitsdienst, der nach Farages Vorstellung vollständig privatisiert würde, das Aus für jedwede Regulierung von Finanzmärkten, das Aus für viele Schutzgesetze, von denen Arbeitnehmer, Mieter, Verbraucher und die Umwelt dank EU profitieren.
Einen englischen Chauvinismus, wie ihn Farage befeuert, gab es schon früher. Er äußerte sich im Hass auf EU-Ausländer, denen anders als den Zuwanderern aus den ehemaligen Kolonien die Ehrerbietung vor mutmaßlich überlegenen angelsächsischen Wesen abgeht. Farage, der seit zwei Jahrzehnten im EU-Parlament sitzt, ist stolz darauf, bis heute kein Wort Französisch, Spanisch oder gar Flämisch zu sprechen. Man mag die diffuse Frustration all derer verstehen, die den im Kampf um das Referendum 2016 verbreiteten Lügen geglaubt haben. Aber man sollte den tief sitzenden Hass auf die „bloody foreigners“, besonders die Europäer, nicht vergessen, der dem Brexit-Verlangen seine Wucht verleiht. Farage mag manchen als bösartiger Clown erscheinen, der außer unverschämten Sprüchen nichts zu bieten hat. Aber es ist auch eine Tatsache, dass viele britische Politiker gegen ihn ohnmächtig wirken.
Genutztes Vakuum
Noch ist auf einige wenige Journalisten Verlass, die Farage gelegentlich mit seinen dreisten Lügen zu konfrontieren wagen. Doch aufhalten lässt er sich damit kaum. Um Farages Partei zu stoppen, müssten deren Gegner für den jeweils aussichtsreichsten Gegenkandidaten stimmen. Labour unter Jeremy Corbyn wird das nicht tun, also wird die Brexit-Partei triumphieren – und fortan die Agenda im Unterhaus mitbestimmen, auch wenn sie dort weder Sitz noch Stimme hat.
Was sagt es über ein Land, wenn ein Viertel der Wähler einem wie Nigel Farage folgt, der als Selbstdarsteller ausschließlich auf den Effekt und die momentane Massenstimmung setzt? Ein Politiker, der rationales Handeln, Institutionen, Regeln und Gesetze verachtet? Farage stößt in ein Vakuum, das die völlig zerstrittenen Tories und eine unentschieden wirkende Labour Party geschaffen haben. Für den Fortbestand einer demokratischen Ordnung verheißt es nichts Gutes, wenn so die Deutungshoheit über Politik verloren geht. Man kann die Frage auch zuspitzen: Wie kann eine Gesellschaft damit umgehen, wenn ein beträchtlicher Teil der Stimmbürger nicht wirklich informiert und unbelehrbar sein will? Wer schützt das Volk vor sich selbst und seinen falschen Freunden?
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