Seit dem 29. März läuft die Uhr, in zwei Jahren wird Großbritannien die EU unwiderruflich verlassen haben, ist Premierministerin Theresa May überzeugt. Das Parlament hat der Regierung einen Freifahrtschein für die Verhandlungen in Brüssel ausgestellt, auch ein Crash ist einkalkuliert. Seit Wochen wird von den Konservativen das Credo beschworen: Kein Abkommen über den Brexit sei für Großbritannien besser als ein schlechtes Abkommen.
Theresa May kann tun, was die Daily Mail, die Sun und die übrigen Europa verabscheuenden Blätter ihr vorschreiben, weil Labour als größte Oppositionspartei ausfällt. Deren Versagen ist das Versagen Jeremy Corbyns und seiner Crew. Von diesem Oppositionsführer haben die Tories nichts zu f
en die Tories nichts zu fürchten. Nicht Labour, sondern eine Initiative von Privatleuten hat Ende vergangenen Jahres per Gerichtsbeschluss eine Parlamentsdebatte über die Brexit-Strategie der Regierung erzwungen. In deren Verlauf haben die Labour-Abgeordneten in ihrer Mehrheit Theresa Mays Austrittsgesetz ohne Änderungen durchgewunken. Der Parteichef erinnerte seine Abgeordneten an die Fraktionsdisziplin und gab die Parole aus, der Brexit-Vorlage zuzustimmen, auch dann, wenn alle Änderungsanträge abgelehnt würden.Hohn und SpottEinzelne tapfere Parteirebellen konnten im Verein mit den Liberaldemokraten, den schottischen Nationalisten und einigen aufbegehrenden Tories der Regierung im Oberhaus erfolgreich Widerstand leisten, doch hat das inzwischen nicht einmal mehr eine aufschiebende Wirkung. Mays Brexit-Strategie ist so katastrophal wie konfus auf Illusionen und blanke Hybris gebaut. Leider hat die Labour Party bis heute keine klare Position zum EU-Ausstieg, der Anhänger und Mitglieder eher spaltet als vereint. Nach Umfragen sind zwei Drittel der Labour-Wähler, eine erdrückende Mehrheit der Labour-Abgeordneten und -Amtsträger eindeutig gegen den Brexit. In den Labour-Hochburgen im Norden Englands finden sich hingegen Labour-Mehrheiten für eine Abkehr von der EU.Jeremy Corbyn vertrat vor und nach seiner Wiederwahl im September 2016 die Auffassung, der EU-Ausstieg müsse auch als Chance gesehen und der Wille des Volkes akzeptiert werden. Er ließ offen, ob Labour einem harten Brexit die Zustimmung verweigern sollte. Schaden von britischen Arbeitnehmern und dem Wohlfahrtsstaat abzuwenden, sei Labours erste Pflicht, so sein Versprechen. Dann allerdings hätte die Partei versuchen müssen, der Regierung May im Parlament eine krachende Niederlage beizubringen, sie zum Rücktritt zu zwingen und eine breite Oppositionsbewegung gegen den Brexit wie die zweifelhaften Austrittsszenarien zu führen. Labour hätte sich als Wortführer der 48 Prozent, die am 23. Juni 2016 gegen den Brexit stimmten, verstehen und für jene Mehrheit engagieren müssen, die keinen harten Ausstieg will. Es war möglich, Widerstand gegen den rigiden Kurs der Tory-Extremisten in beiden Häusern des Parlaments zu organisieren und die Regierung zu schlagen. Corbyn hat es vorgezogen, Labour ohne Not zu verkaufen – an die Konservativen und eine rechtsnationale Presse, die ihn prompt Hohn und Spott aussetzt.Erneut gibt es Rücktritte im schon arg dezimierten Schattenkabinett, und Labour liegt in den Wahlprognosen abgeschlagen hinter den Tories. Ein Indiz dafür war der Verlust des Unterhausmandats bei einer Nachwahl Ende Februar in der nordenglischen Stadt Copeland. Es ging um einen Wahlkreis, den Labour seit 1935 ununterbrochen gehalten hat. Die Tories holten sich diese Trophäe – ein mehr als ungewöhnliches Ereignis. Vor dieser Niederlage hatten sich Tristram Hunt und Jamie Reed, zwei einstige Hoffnungsträger der Partei, entnervt aus dem Unterhaus zurückgezogen und so die Befürchtung genährt, dass Labour mit Corbyn an der Spitze keine Machtperspektive mehr hat und auf ein Dasein als ewige Opposition reduziert bleibt.Der Parteichef hat nach den Brexit-Voten im Unterhaus erklärt, jetzt fange der Kampf um Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte erst richtig an. Man werde sich für einen zollfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt ebenso einsetzen wie für das Bleiberecht für EU-Bürger sowie den Verbraucher- und Umweltschutz. Doch bleibt die Partei bisher eine Programmatik schuldig, der zu entnehmen wäre, wie die Regierung May auf ihrem Konfrontations- und Crashkurs zu stoppen ist. Dabei sind Corbyns Unterstützer, besonders die vielen Neumitglieder in der Partei, Teil des Problems. Zwar ist auch für sie unstrittig, dass ein harter Brexit für Labours Kernklientel ein ökonomisches Desaster sein wird, nur fällt es vielen Bewegungslinken schwer, eine wirksame Gegenwehr zu formieren. Gewiss lassen sich Protestmärsche und Meetings veranstalten, die Gleichgesinnten das Herz wärmen, aber außerparlamentarische Opposition allein, wird die Tories nicht sonderlich beeindrucken.Ausgerechnet jetztLeider unterwirft sich Corbyn dem Mantra, das regierungsfreundliche Blätter des Murdoch-Konzerns unablässig verbreiten: Der „Wille des Volkes“ sei unbedingt zu respektieren. Jeder Brexit-Gegner sei ein „Antidemokrat und Volksfeind“. So wurden selbst die Richter am Supreme Court denunziert, als sie über die Parlamentsteilhabe beim Brexit entschieden.Eine demokratische Opposition sollte sich derart populistischer Demagogie widersetzen. Das „Volk“ – es waren am 23. Juni 2016 angesichts der Wahlbeteiligung weniger als 37 Prozent des Elektorats – hat keineswegs eindeutig seinen Willen bekundet, sondern ist einer Stimmung erlegen. Es hat das Recht, sich aufklären zu lassen und von seinen frei gewählten Abgeordneten zu erwarten, dass die ihm nicht nach dem Mund reden, sondern sagen, was sie für richtig halten. Es gibt viele in der Labour Party, die das bei Jeremy Corbyn vermissen. Als Oppositionsführer versagt er in einem Augenblick, in dem das Land nichts dringender braucht als den Schneid einer Opposition. Eine Führung, die eine im Prinzip noch immer sozialistische Partei daran hindert, effektiv für diejenigen einzutreten, die die Zeche eines harten Brexits werden zahlen müssen, ist ein Desaster.