Europa bricht jetzt all seine Tabus

Corona-Notprogramm Nur der Staat ist in der Lage, die kapitalistische Ökonomie aufzufangen
Ausgabe 13/2020

Wir erleben eine Pandemie wie seit 100 Jahren nicht mehr. Der Weltwirtschaft des globalen Kapitalismus wird ein externer Schock zuteil, da die Seuche nur eingedämmt werden kann, wenn nationale Ökonomien für Wochen und Monate stillgelegt bleiben. Ein extremer Einbruch, der das Ausmaß der letzten großen Wirtschaftskrisen deutlich übertrifft. Jene guten Leutchen, die an den Finanzmärkten unterwegs und stets für eine Panik gut sind, haben prompt reagiert und Aktienkursen einen unerhörten Absturz beschert. Wenn für ungewisse Zeit alles außer den absolut lebenswichtigen Produktionszweigen „out of service“ geht, sind Einbrüche von 25 Prozent und mehr programmiert. Sicher wird es Nachholbedarf geben, wenn die Pandemie eingedämmt ist, aber die Verluste für die Automobilindustrie, für Tourismus und Landwirtschaft lassen sich so bald nicht kompensieren. Chinas Wirtschaftswachstum wird 2020 bedeutend geringer ausfallen als erwartet, die asiatische Wachstumslokomotive fällt aus.

Anders als in der Anfangsphase der Weltfinanzkrise 2008/09 haben die Zentralbanken der wichtigsten OECD-Länder nicht gezögert und unverzüglich eingegriffen. Der Wucht der absehbaren Einbruchs angemessen, fiel die Antwort aus. Die US-Zentralbank Fed hat ihre Leitzinsen drastisch auf fast null Prozent gesenkt, was gelten soll, bis die Folgen der Corona-Krise bewältigt sind. Außerdem gibt es Notfallkredite für Banken sowie ein Programm zum „unbegrenztem Aufkauf“ von Anleihen. An Geldmangel soll die US-Wirtschaft nicht leiden und die Weltwährung Dollar keinen Schaden nehmen.

Im Mario-Draghi-Stil

Die Europäische Zentralbank EZB hingegen hat ihr Zinspulver schon verschossen, mehr als Nullzinsen geht nicht, und Negativzinsen bringen Finanzinstitute und Unternehmen nur noch tiefer in die Bredouille. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat sich nach anfänglichem Zögern entschlossen, im Mario-Draghi-Stil zu verkünden, die EZB werde alles tun, was nötig sei. Und notwendig ist schweres Geschütz. Also legt die Bank ein Pandemie-Notprogramm auf, um staatliche wie private Anleihen aufzukaufen, wofür 750 Milliarden Euro verfügbar sind. Zugleich wird das bereits laufende Ankaufprogramm um 120 Milliarden Euro aufgestockt. Das heißt, in den nächsten Monaten dürften im Schnitt für 100 Milliarden Euro Anleihen von oder aus einzelnen EU-Staaten gekauft werden, ab sofort auch griechische Schuldentitel. Hinzu kommen Geldmarktpapiere, also Schuldverschreibungen mit Laufzeiten von bis zu drei Monaten, mit denen Unternehmen laufende Geschäfte refinanzieren.

Fortan werden die Bedingungen für Geschäftsbanken, die sich von der EZB Geld leihen wollen, deutlich gelockert, „so viel wie nötig und so lange wie nötig“, wie die EZB erklärt. Fast eine Sensation: Sogar griechische Staatsanleihen werden nun als Sicherheiten für Kredite von der EZB akzeptiert. Dabei werden Grenzen gesprengt, wenn die Europäische Zentralbank so weit gehen will, sich notfalls mehr als ein Drittel aller Anleihen eines Staates ins Depot zu holen und dabei den Anteil jedes Euro-Staates am Grundkapital der EZB nicht länger zu berücksichtigen. Mario Draghis Nachfolgerin hat verstanden, was in diesen Zeiten eine Harke ist.

Die EU kann mit dieser Dynamik nicht einmal ansatzweise mithalten. Versuche der Von-der-Leyen-Kommission, Grenzkontrollen bzw. -schließungen halbwegs zu koordinieren, sind rasch gescheitert. Zu groß war die Versuchung einzelner Regierungen, den starken Mann zu markieren und in den beliebten Modus der singulären Interessenpflege zurückzufallen. Immerhin hat es die Kommission geschafft, dem fatalen Hang von EU-Regierungschefs, Medikamente, Equipment und Schutzkleidung im eigenen Land zu horten, Einhalt zu gebieten. Spektakulärer geriet freilich die Entscheidung in der EU-Zentrale, die berühmt-berüchtigten Defizitregeln für die Mitgliedstaaten auszusetzen. Angesichts der absehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie ist erstmals die allgemeine Ausweichklausel im EU-Stabilitätspakt in Kraft gesetzt. Offiziell heißt es, die Pandemie sei als Naturkatastrophe einzustufen. Die jahrelang betriebene Disziplinierung bei den Haushalten der Mitglieder kann man sich schlichtweg nicht mehr leisten. Im Prinzip darf sich bis auf Weiteres jeder unbegrenzt verschulden, um einen sozialen Kollaps für Millionen von abhängig Beschäftigten und Selbstständigen, für Privat- und Unternehmenshaushalte zu verhindern. Mut zeigt in dieser Lage selbst der deutsche Finanzminister Olaf Scholz, dem schwarze Nullen fürs Erste egal sind. Italien, der am schwersten betroffene EU-Staat, hat mit dem ausdrücklichen Segen aus Brüssel ein Hilfsprogramm von 25 Milliarden Euro aufgelegt, was nicht reichen wird, um massenhafte Bankrotte und Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Wir lernen gerade erneut das Einmaleins des Kapitalismus, wie man ihn kennt: In großen Krisen kann ihm nur der Staat helfen. Wie unverantwortlich ist es da, ihn in Zeiten scheinbar immerwährender Prosperität zu schwächen. Und das nicht nur im öffentlichen Gesundheitswesen, wo jetzt die Zeche für Jahrzehnte einer unsinnigen Sparpolitik mit Tausenden von Toten bezahlt werden muss.

Corona-Bonds

Mancher sieht die Euro-Krise unseligen Angedenkens zurückkehren, wenn hoch verschuldete Staaten wie Italien mit ihrer schwächelnden Wirtschaft gerade im Norden, dem Kernland der Produktion, auf einen massiven staatlichen Interventionismus umschalten, wofür Milliarden zu mobilisieren sind, während gleichzeitig die Steuerkraft des Landes wegbricht. Also werden die Investoren an den Finanzmärkten nervös, die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen steigen sprunghaft. Vor vier Wochen lagen die Renditen für diese Schuldverschreibungen noch bei 0,9 Prozent, zuletzt waren es schon fast drei.

Ebenso muss der griechische Staat durch gebotene Einschnitte im öffentlichen Leben, durch die Schließung von Restaurants, Cafés, Bars und Einkaufszentren schwere Einbußen an Einnahmen verkraften. Für seine fragile Ökonomie firmiert der Tourismus immerhin als die Branche, der ein Viertel der Jahreswirtschaftsleistung zu verdanken ist. Noch Anfang Februar wurde es als großer Erfolg gefeiert, dass der griechische Staat für eine Anleihe mit zehnjähriger Laufzeit nur noch ein Prozent Zinsen zu gewärtigen hatte. Damit ist es längst vorbei, der Zinsschub erst einmal unwiderruflich. Folglich wird das Aufkaufprogramm der EZB vorrangig wieder schwer refinanzierbare Staatsanleihen Italiens und Griechenlands, aber auch Spaniens und Portugals vom Markt nehmen, um Zinsen wie Renditen zu drücken und Investoren zu beruhigen.

Stillschweigend hat die EU ein weiteres Tabu gebrochen, das im Merkel-Deutschland als sakrosankt galt: Eurobonds sind unvermeidlich und tauchen derzeit unter dem Namen „Corona-Bonds“ wieder auf. Um die Finanzierung der massiven Krisenprogramme in allen Euro-Ländern zu erleichtern, muss man diese und vorhandene Mittel nutzen, wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Der wäre geeignet, um über Gemeinschaftsanleihen die notwendigen Gelder aufzubringen. Ursula von der Leyen sagt dazu: „Wenn sie helfen …, werden sie eingesetzt.“

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