Er war denkwürdig, dieser zweitlängste EU-Gipfel aller Zeiten. Fast fünf Tage lang wurde mühsam verhandelt, oft vehement gestritten. Scheitern oder Vertagen galt als verhängnisvolle Option, jedenfalls für Kanzlerin Merkel, die seit dem 1. Juli auf dem Stuhl des EU-Ratspräsidenten sitzt und wieder mehr im Tandem mit Frankreichs Präsident Macron unterwegs ist, nicht zuletzt bei ihrer Kehrtwende in der Schuldenfrage. Und dank des Ausscheidens der Briten fehlte den Bremsern und Blockierern das stärkste Bataillon.
In den kommenden Jahren nun kann die EU mit einem Haushaltsvolumen von 1,8 Billionen Euro – doppelt so viel wie bisher – die Muskeln spielen lassen, ein wenig zumindest. Auch der Wiederaufbaufonds für die von der Corona-Krise am schwersten getroffenen Mitgliedsländer ist besiegelt, auch wenn die Gelder nun anders verteilt werden als zunächst gedacht. Statt 500 Milliarden Euro gibt es nur 390 Milliarden als nicht rückzahlbare Zuschüsse, statt 250 werden 360 Milliarden als Kredite vergeben. Das können sich die Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich und Finnland auf die Fahnen schreiben, aber letztlich nicht viel mehr als das. Um diesen Nothilfefonds zu finanzieren, werden erstmals in der EU-Geschichte Verbindlichkeiten eingegangen, für die alle Mitglieder gemeinsam haften. Das heißt, diese Staatenunion kann ihr volles Gewicht in die Waagschale der Finanzmärkte werfen. Die Liga der „fünf Geizigen“ musste dem folgen. Möglich wird ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg vom Währungsverbund zu einer funktionsfähigen Wirtschafts- und Finanzunion, obwohl jetzt bekundet wird, es handele sich um eine Ausnahme, nicht die neue Regel.
Rabattjäger im Pulk
Andererseits ist nichts erfolgreicher als der Erfolg, das gilt auch in der Finanzpolitik. Sollten sich die EU-Anleihen rasch durchsetzen, gäbe es erstmals eine Alternative zu den US-Schatzwechseln (Treasury Bonds). Die Herren der Finanzmärkte, die nicht wissen, wohin mit dem Geld, sollten dann wissen, was zu tun ist. Leider hat man sich in Brüssel ohne Not und gegen jede ökonomische Klugheit darauf festgelegt, die Gemeinschaftsanleihen in gut 20 Jahren zurückzuzahlen. Das tut ein intelligenter Schuldner nicht, wenn er ohne Weiteres Kredite mit Laufzeiten von 30, 50 oder 80 Jahren bekommen kann – und das zu Zinsen auf Minimalniveau.
Die „geizigen Fünf“ haben sich und die EU mit allem Möglichen bekleckert, nur nicht mit Ruhm. Es ging ihnen um Rabatte, um Geld, das sie nicht zahlen, und um Kontrolle über die Vergabe von Finanzen, die nicht aus ihren Staatsbudgets kommen, sondern aus Krediten, die von der EU zu erheblich günstigeren Konditionen aufgenommen werden können, als das jedem einzelnen Mitglied möglich wäre – Deutschland ausgenommen. Und es geht um Steuern, die Brüssel künftig auf eigene Rechnung erheben wird: eine Kohlendioxidsteuer, Mittel aus dem Emissionshandel und womöglich eine Digitalsteuer, sofern die Mitglieder eine intelligente Finanzpolitik gestatten.
Auf Kosten anderer den „Sparsamen“ zu spielen, ist leicht. Die Niederlande etwa sind eine der größten Steueroasen in der EU. Spanische, portugiesische, italienische und natürlich multinationale Konzerne haben sich dorthin bewegt, um Abgaben zu sparen. Was der niederländischen Ökonomie und dem niederländischen Fiskus kaum nützt, aber allen in der EU schadet. Beim Verhandlungsmarathon von Brüssel haben sich die sparsamen Heuchler ihren Widerstand abkaufen lassen. Mit 125 Millionen Euro Rabatt war die dänische Regierungschefin Frederiksen zufrieden, mit 345 Millionen Rabatt fuhr der niederländische Premier Rutte nach Hause.

Grafik: der Freitag, Quelle: EU Kommission
Hat ein unwürdiges Feilschen wieder einmal offengelegt, wie reformbedürftig Institutionen und Politikmuster in der EU sind? Das Kernproblem liegt woanders. Die Union ist nur handlungsfähig, wenn die Regierungen von 27 Mitgliedsländern an einem Strang ziehen. Jeder einzelne dieser Kleinstaaten – und in der heutigen Welt sind sie alle Kleinstaaten – will große Politik betreiben, solange der Zwang zum Konsens das zulässt. Inwieweit das auf Kosten der Gemeinschaft geht, erscheint sekundär, EU- ist Innenpolitik, sie entscheidet über Wahlkämpfe und fragile Koalitionsregierungen.
Dass in Krisenzeiten der Missbrauch von Vetomacht floriert, hat viel mit buchhalterischen Denkmustern und einem neoliberalen Zeitgeist zu tun. Alle starren auf Kosten und Beiträge. Was zahlen wir ein, was bekommen wir heraus? Mit Gewinn oder Verlust? Die Nettozahler, leider auch die Deutschen, sehen sich in der Opferrolle und betrachten die Nettoempfänger als fragwürdige Profiteure, die auf Kosten anderer leben. Und das Publikum glaubt diesen Unsinn, weil er ständig medial nachgebetet wird. Tatsächlich gehören Deutsche wie Niederländer und Österreicher zu den größten Profiteuren der EU wie der Währungsunion überhaupt. Was man freilich in der völlig verzerrten Perspektive eines Nullsummen-Haushaltsspiels augenscheinlich nicht wahrnimmt.
Also gilt die Parole: Wer zahlt, schafft an. Daher der erbitterte Widerstand gegen nicht rückzahlbare Zuschüsse. Geld für die Südländer nur unter Auflagen geben, sonst verprassen die alles, so das auch in Deutschland beliebte Narrativ. Und Auflagen beschließen, heißt „Reformen“ verlangen und läuft nach Mark Ruttes Auftritten in Brüssel offenbar auf die Vorstellung hinaus: Kontrolle der Arbeit von Parlament und Regierung in Rom durch Parlament und Regierung in Den Haag. Wie sich hier Unverschämtheit Geltung verschafft, ist atemberaubend, als läge ein Vetorecht in der Luft. Woraus glücklicherweise nichts geworden ist, eine Notbremse jedoch blieb. Das heißt, Rutte, Kurz oder Frederiksen dürfen sich immer noch einmischen, wenn ihnen in Südeuropa irgendetwas nicht passt. Damit ist permanenter Streit garantiert.
Sparkommissare unerwünscht
Einige Auflagen, die jetzt vereinbart wurden, sind sinnvoll, weil für alle Beteiligten mehr als angebracht. So die Verpflichtung, sämtliche mit EU-Geldern finanzierten Wiederaufbaumaßnahmen an einer europäischen Klimapolitik auszurichten. Nur braucht es dazu keine Sparkommissare aus den Niederlanden oder Österreich. Unerledigte Gemeinschaftsaufgaben kennt die EU weiß Gott genug. Wer die angehen will, muss mehr in petto haben als eine sattsam bekannte Buchhalterlogik. Die Gipfelrunde hat es sogar geschafft, den Konflikt mit Polen und Ungarn zu entschärfen, vorerst jedenfalls. Das Rechtsstaatsprinzip ist nicht ausgehebelt, nur muss man den üblichen Verdächtigen in Budapest, Warschau oder Prag detailliert nachweisen, dass sie dagegen verstoßen haben.
Nach dem überstandenen Verhandlungsmarathon beginnt die Arbeit. Wie rasch die EU als Ganzes, wie beschädigt oder nicht ihre Mitgliedsländer die wirtschaftliche Talfahrt überstehen, entscheidet sich in den nächsten Monaten. Spät, vermutlich zu spät hat man sich zur weit ausholenden Anti-Krisen-Reaktion durchgerungen, mit Mühe und im Dissens, ohne die gebotene Größe und Großzügigkeit. Kanzlerin Merkel bleiben noch fast sechs Monate, um nachzuarbeiten. Schließlich muss auch das EU-Parlament erst einmal zustimmen.
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