Im freien Fall zu Olympia

Brasilien Der Abstieg aus der Topliga der Weltwirtschaftsmächte ist unverkennbar und momentan unaufhaltsam
Ausgabe 11/2016
Über Präsidentin Dilma Rousseff schwebt ein Amtsenthebungsverfahren
Über Präsidentin Dilma Rousseff schwebt ein Amtsenthebungsverfahren

Foto: Evaristo Sa/AFP/Getty Images

Gerade ist Ex-Präsident Lula da Silva verhaftet, stundenlang verhört und nun gar angeklagt worden. Er soll laut Staatsanwaltschaft in die Korruptionsaffäre um den staatlichen Ölkonzern Petrobras verwickelt sein. Dazu gibt es Massendemonstrationen in São Paulo – für und gegen Lula – mit teils heftigen Konfrontationen auf der Straße. Dilma Roussef, Lulas Nachfolgerin und politische Ziehtochter, hat sich ostentativ hinter ihren Mentor gestellt. Zu erleben ist der Fortgang einer Erosion, die der größten Demokratie Lateinamerikas enorm zusetzt.

Staatschefin Rousseff – 2014 mit hauchdünner Mehrheit wiedergewählt – kämpft selbst ums politische Überleben. Ihre Beliebtheitswerte tangieren derzeit den einstelligen Bereich. Die Vergangenheit hat sie eingeholt – nicht die eigene, ihr ist ernstlich nichts vorzuwerfen, sondern die ihrer Arbeiterpartei (PT), die seit 2001 durchweg regiert. Seit über einem Jahr belastet ein über Rousseff schwebendes Amtsenthebungsverfahren ihre präsidiale Autorität. Der Skandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras kann da kaum etwas zum Besseren wenden. Es geht um kriminelle Machenschaften und Geldwäsche in größtem Stil. Die politische Klasse, darunter auch Funktionäre der PT, hat in die eigene Tasche gewirtschaftet. Sie weiß Schmiergelder zu schätzen, doch sind die Zeiten, in denen die Petrobras-Aktien an der New Yorker Börse gehandelt wurden, lange vorbei.

Dilma Rousseff begann ihre erste Amtszeit 2011 mit einem Feldzug gegen die Korruption im Land und blieb hart. Tausende Beamte wurden gefeuert und vor Gerichte zitiert, womit sich die Präsidentin mehr Feinde als Freunde verschaffte. Auch weil die Petrobras-Affäre den Konzern nicht nur seinen Ruf kostete, sondern Tausende von Erdölarbeitern die soziale Existenz. Heute dümpeln halbfertige Ölplattformen auf brasilianischen Werften herum. Das Land verfügt über die größten neu entdeckten Ölreserven weltweit, aber ausgebeutet wird davon so gut wie nichts.

Weniger Sambaschulen

Kantiger Widersacher Rousseff ist Parlamentspräsident Eduardo Cunha von der rechtsliberalen Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB), der das Impeachment-Verfahren gegen die Präsidentin lostreten wollte, bis ihn das Oberste Gericht stoppte. Cunha steht inzwischen selbst wegen Korruption in Verbindung mit Petrobras-Geschäften unter Anklage. Er soll laut Staatsanwaltschaft umgerechnet 4,5 Millionen Euro Schmiergelder angenommen und in der Schweiz gebunkert haben. Brasiliens Justiz lässt sich von nichts und niemandem mehr beeindrucken. Sie agiert tatsächlich als unabhängige Instanz, der politische Rücksichten suspekt sind – die einzige gute Nachricht im Augenblick.

Die politischen Dramen spielen sich vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise ab, wie es sie seit 25 Jahren nicht gab. Deren Folgen konnten beim diesjährigen Karneval in Rio besichtigt werden. Weniger Prunkwagen, weniger Tänzer, weniger Sambaschulen, selbst die ältesten und reichsten müssen sparen. Brasilien – bis vor kurzem noch Star unter den Schwellenländern – steckt im Krisensog und das wenige Monate vor den Olympischen Spielen im August.

Brasilianische Historiker erkennen sogar auf den tiefsten Einbruch seit 1901. Bei einem Negativwachstum von 3,7 Prozent im Vorjahr sagen Pessimisten einen Aderlass von bis zu zehn Prozent in den nächsten drei Jahren voraus. Die Inflation hat zu traben begonnen und eine Geldentwertung von elf Prozent seit Anfang 2015 bewirkt. Was den Normalbürger am härtesten trifft, sind die galoppierenden Lebensmittelpreise, die ihm schon das letzte Weihnachtsfest verhagelt haben.

Millionen Brasilianer, die in den Jahren des Booms der Rohstoffexporte den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft haben, plagt die Angst vor dem Absturz. Schließlich hält die globale Absatzkrise bei Rohstoffen und Agrarprodukten an, bleiben die Preise für Eisenerz, Soja, Zucker, Kaffee und Erdöl – Brasiliens Hauptausfuhrsortiment – unter Warenwert. Schwächelnde Handelspartner wie China und Indien tun ein Übriges, um die erhoffte Prosperität ins Gegenteil zu verkehren. Die Ausfuhren nach China sind allein im Jahr 2015 um 14 Prozent gesunken und hatten ihren Anteil daran, dass das gesamte Außenhandelsvolumen des Landes im Vorjahr um mehr als ein Viertel schrumpfte. Den Binnenmarkt kann ein solcher Einbruch nicht unberührt lassen, da die Importe ebenfalls nachgeben.

Eine Wirtschaftskrise kommt selten allein. In Brasilien wird sie von Umweltkatastrophen begleitet, die weite Teile des Riesenlandes lähmen. Der Dammbruch vom November in Minas Gerais hatte diese Wirkung, da der Rio Doce für hunderte Kilometer mit Klärschlamm verseucht wurde. Zwei Wochen brauchte die Schlammlawine, um sich bis zum Atlantik zu wälzen und eine breite Spur der Verwüstung zu hinterlassen, so dass hunderttausende Hektar Acker- und Weideland für Jahrzehnte unbrauchbar wurden. Dafür verantwortlich ist der Bergbaukonzern Vale, einer der ganz großen Devisenbringer.

Zu viel Raubbau

Hinzu kommt andauernder Wassermangel in einem der wasserreichsten Länder der Erde. Akut betroffen sind 80 Millionen Menschen in den Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo, deren Trinkwasserreservoirs so gut wie leer sind. Die benachbarten Bundesstaaten gleichen Namens liefern sich seither einen erbitterten Kampf um die knappen Ressourcen und sollten stattdessen dafür sorgen, dass die Agrarindustrie nicht weiterhin mehr als 70 Prozent des Trinkwassers verbraucht. Freilich wurde dieses Debakel lange schon prophezeit, da mit der fortschreitenden Abholzung des Regenwaldes in der Amazonasregion die Menge an Niederschlag von Jahr zu Jahr abnimmt. Bisher weigert sich die Regierung vehement, den vielfach belegten Zusammenhang zwischen fatalem Holzeinschlag und verheerender Dürre zur Kenntnis zu nehmen.

Das alles muss einer Gesellschaft schaden, deren Ökonomie in der Hauptsache von privatem Konsum getragen wird. Für ein Schwellenland von dieser Größe und mit diesen Ressourcen sollte kein Außenhandel zu groß sein. Dennoch verliert die Regierung von Dilma Rousseff unter den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) rapide an Einfluss, ebenso in Lateinamerika, wo sich Argentinien, Chile oder Peru weit besser behaupten.

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