In vier Monaten wird Großbritannien die Europäische Union verlassen haben. Einen Austrittsvertrag samt Übergangsregelungen gibt es inzwischen, da es den Unterhändlern gelungen ist, Kompromisse auf dem Papier zu finden, bei denen offen ist, ob daraus Vertragsklauseln werden. Auf beiden Seiten stehen Abstimmungen an, zunächst durch den EU-Gipfel an diesem Sonntag, bei dem keiner der 27 Mitgliedsstaaten ein Veto einlegen oder Nachverhandlungen verlangen dürfte. Auch nicht die Republik Irland, die den Status der irisch-nordirischen Grenze zur alles entscheidenden Frage erklärt hat. In Großbritannien hingegen bleibt das mühsam ausgehandelte Konvolut von 500 Seiten heftig umstritten – das Land, das Parlament, die Medien, die Regierungspartei, sie alle sind gespalten wie nie.
Ihr eigenes Kabinett schien Theresa May mit Mühe hinter sich gebracht zu haben, doch dann begann eine Rücktrittswelle, die anhalten kann, falls sich die Premierministerin nicht bequemt, das Abkommen noch einmal aufzuschnüren und in Brüssel nachzubessern. May kämpft mit dem Rücken zur Wand, nach dem Motto: ich und mein Abkommen oder das Chaos. Ein besseres Agreement wird es nicht geben, schließlich will die EU ein Exempel für potenzielle Nachahmer statuieren und denkt schon aus optischen Gründen nicht an Nachverhandlungen – dieser Austrittsvertrag oder keiner.
Die Gegner des Vertragsentwurfs kommen von allen Seiten, nicht nur aus dem Lager der Brexit-Extremisten, die nichts lieber sähen als den kompromisslosen Ausstieg. Für sie beginnt jenseits der EU das Reich der grenzenlosen Freiheit, der Wiedergeburt britischer Weltmacht. Doch sind gemäßigtere Geister gleichfalls unzufrieden, und den Brexit-Gegnern bei den Tories wie bei Labour gefällt die Sache ebenso wenig. Alle wissen, dass ein Vertrag zu diesen Konditionen auf einen Verhandlungsmarathon hinausläuft, der Jahre dauern kann und auf den Britischen Inseln für permanente Unsicherheit sorgen wird.
Ohne Sitz und Stimme
Was zeichnet sich ab? Vorerst würde ganz Großbritannien in der Zollunion bleiben und sich an Binnenmarktregeln halten. Dies gilt, bis mit einem neuen Abkommen alternative Lösungen gefunden sind. Dieser vor allem auf die irische Grenzfrage zugeschnittene „Backstop“ ist nicht terminiert und kann nicht einseitig aufgekündigt werden. Überdies müssen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs weiterhin akzeptiert werden. Für die Finanzperiode 2014 – 2020 werden fortgesetzt Zahlungen für den EU-Haushalt fällig, inklusive der Mitgliedsbeiträge für die Europäische Zentralbank (EZB) und die Europäische Investitionsbank (EIB).
Sollte die Regierung May einen solchen Deal tatsächlich durch das Parlament lotsen, würde das eine nächste Verhandlungsrunde einläuten, in der ein umfassendes Freihandels- und Kooperationsabkommen zwischen Großbritannien und der EU ansteht. Niemand weiß augenblicklich, wie das aussehen wird. Es kann daher, fürchten die Brexiteers, so weit kommen, dass man trotz eines formellen Austritts de facto in der EU bleibt und bei einer neuen Kompromissformel wieder in den Binnenmarkt und die Zollunion eintritt. Wird bei den Sondierungen über die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel ähnlich mühselig verhandelt wie bisher (vergleichbare Komplikationen sind bei den notwendigen Handelsabkommen Großbritanniens mit den USA, mit Kanada, China, Japan und anderen Staaten zu erwarten), muss mit einem Schwebezustand von sieben bis acht Jahren gerechnet werden.
Erklärten Brexiteers kann das nicht gefallen, denn es ist davon auszugehen: Solange verhandelt wird, gilt für Großbritannien EU-Recht. Demnach dürfen EU-Ausländer fortgesetzt frei ein- oder ausreisen und überall auf den Inseln arbeiten. Zu sagen hätte eine britische Regierung so gut wie nichts mehr, Sitz und Stimme im Europäischen Rat, in der EU-Kommission wie in den Gremien der Fachminister wäre man los. Im EU-Parlament gäbe es keine Abgeordneten mehr. Und solange Großbritannien in der Zollunion verbleibt, haben sich eigene Handelsverträge mit Drittstaaten erledigt. Die gloriose globale Zukunft des Landes, von der die Brexit-Sympathisanten schwärmen, wäre gestundet, für eine lange Zeit womöglich.
Im Moment und auf absehbare Zeit gibt es nur drei Alternativen: Entweder das Unterhaus schluckt mit gewaltigem Zähneknirschen den wackligen Kompromiss, den Theresa Mays Emissäre zustande gebracht haben. Es wird dann eine lange Übergangsperiode und andauernde Ungewissheit über den weiteren Umgang mit der EU geben. Oder das Unterhaus verwirft Mays Abkommen, stürzt die Regierung und beschert dem Land turbulente Zeiten, da bis zum D-Day am 29. März kein neuer Vertrag aus dem Hut gezaubert werden kann. Oder – drittens – die Tories ziehen die Notbremse, sagen den Brexit vorerst ab, ersuchen um Fristverlängerung oder wagen gar ein zweites Referendum, bei dem drei Optionen zur Wahl stehen: erstens Mays Abkommen, zweitens ein Exit ohne Abkommen, drittens ein Verbleib in der EU. Dabei ist eine erneute Volksbefragung die unwahrscheinlichste Variante, weil Konservative wie Labour bisher die Überzeugung vertraten, das Volk habe am 23. Juni 2016 nun einmal gesprochen.
Davon abgesehen sagen Experten, dass ein minimaler Zeitraum von 22 Wochen zwischen dem Entscheid für ein Plebiszit und dem Votum selbst geboten wäre. Um vor dem 29. März abstimmen zu lassen, hätte man also spätestens Anfang Oktober das entsprechende Dekret verabschieden müssen. Und was wäre mit den Mitte Mai 2019 anstehenden Wahlen zum EU-Parlament? Annulliert eine Mehrheit per Referendum den EU-Ausstieg, müssten die Briten über die Kammer in Brüssel beziehungsweise Straßburg mitentscheiden, dies jedoch bis spätestens Ende Juni 2019, denn dann muss die EU-Legislative das erste Mal zusammentreten. Auch das wäre nicht mehr zu schaffen, berücksichtigt man die zeitlichen Vorgaben für die Nominierung der Kandidaten wie die Wahlkampagne. Zwar ist eine Mehrheit der Briten laut Umfragen inzwischen wieder für den Verbleib in der EU (unter den 18- bis 24-Jährigen sind es deutlich über 80 Prozent) und gewinnt ein „people’s vote“ täglich Anhänger – da aber die britische Politik und die politische Klasse nun einmal sind, was und wie sie sind, wird das Parlament wohl einen Crash-Brexit ohne Abkommen und Übergangsregeln bewirken. Was nicht zuletzt gegen einen wachsenden Widerstand der Geschäftswelt geschieht, die in dieser für sie vitalen Frage offenkundig ganz und gar nicht ihren Willen bekommt. Die Drohung mit Abwanderung und Stellenabbau, ein angekündigter Investitionsstreik – all die ansonsten so bewährten Folterinstrumente der Business Class nützen nichts.
Illusionisten zuhauf
Welche Auswege sind denkbar? Der Brexit kann noch gestoppt werden, falls die britische Regierung die EU um Fristverlängerung über den 29. März 2019 hinaus bittet. Jeremy Corbyn und die Labour Party hoffen und setzen stattdessen nach wie vor auf Neuwahlen. Scheitert Theresa May mit ihrem Plan im Unterhaus, müsste sie abtreten und die Bürger zu den Wahlurnen rufen. Ein Votum, das Labour dann todsicher gewinnen würde. Jeremy Corbyn oder das totale Chaos – eine solche Alternative dürfte dann entscheidend sein. Leider ist dieser Ablauf keineswegs zwingend. Auch Wahlen können nicht über Nacht angesetzt und durchgeführt werden, mindestens drei Monate bräuchte es. Ohnehin wiegen sich Corbyn und seine Anhänger in dem Glauben, die Tories würden den Fehler von 2017 wiederholen und ihnen Neuwahlen auf dem Silbertablett servieren. Und sie scheinen sich nach wie vor in der Illusion zu wiegen, einmal an der Macht, könnten sie die EU zu einem anderen und viel besseren Abkommen bewegen, sodass die Briten austreten könnten, aber erhebliche wirtschaftliche Nachteile vermieden, vor allem keine Jobs verlören.
Mit anderen Worten: Corbyn und die Seinen haben den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen. Sie glauben, die EU-Zentrale werde ihnen all das geben, was sie May verweigert hat. Mit anderen Worten: Das Feld der britischen Politik wird derzeit von rechts wie von links durch Illusionisten reinsten Wassers bespielt. Die Brexit-Agenda von Labour sieht vor: erst einmal raus aus der EU, egal wie, und dann einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vollziehen, gegen den aus Brüssel kein Veto mehr eingelegt werden kann.
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