Theresa May gibt es immer noch. Die schwächste Premierministerin, die den Tories je beschieden war, hat gerade mit Ach und Krach ihr Kabinett und die Spitze der Konservativen umgebildet. Nicht freiwillig, ihr bisheriger Vizepremier Damian Green musste wegen Falschaussage in einem Ermittlungsverfahren zurücktreten. May ist bei diesem Revirement keinen der harten Anti-Europäer losgeworden. Inzwischen reicht extreme Inkompetenz, wie sie Brexit-Minister David Davis, Außenminister Boris Johnson und Liam Fox, zuständig für Außenhandel, mit schöner Regelmäßigkeit unter Beweis stellen, nicht mehr, um gefeuert zu werden. May hat ihre Atempause schlecht genutzt.
Kurz vor Weihnachten gönnte ihr die EU noch einen Erfolg. Dank tatkräftiger Hilfe von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schluckte der Europäische Rat einen windigen Formelkompromiss, mit dem der Konflikt um die künftige Grenze zwischen Irland und Nordirland vorerst gestundet wird, und ermöglichte damit Verhandlungsrunde zwei. Da in London alle wussten, dass dann vieldeutiges Geraune deplatziert sein wird, nutzten die Gegner eines harten Brexits in der konservativen Parlamentsfraktion die Gunst der Stunde, um die Premierministerin festzunageln. Spätestens im Oktober 2018 soll sie ihren Verhandlungsertrag dem Unterhaus zur Abstimmung vorlegen.
Alle Krisen sind schon da
Derart unter Druck hat May eine neue Staatssekretärin im Brexit-Ressort installiert, die das Land auf den härtesten Ausstieg von allen einstimmen soll: den ohne Austrittsvertrag, bei dem der Handel mit allen bisherigen Partnern nur noch nach WTO-Regeln möglich wäre. Die Mission ist Suella Fernandes übertragen, bisher Vorsitzende der European Research Group, des intellektuellen Zentrums der Brexit-Hardliner. Diese Dame hält einen Crash-Exit für vorteilhafter als alle anderen Optionen.
Im Land wächst unterdessen der Unmut über eine Regierung, deren Verhandlungsführung wenig Vertrauen einflößt. Kein Wunder, dass sich langsam der Wind dreht. Nach jüngsten Umfragen würden heute 51 Prozent gegen einen Brexit stimmen, nur eine Minderheit favorisiert einen Rückzug ohne jedes Abkommen. Ein sanfter Brexit nach dem Vorbild Norwegens würde hingegen auf viel Wohlwollen stoßen. Schließlich ist nicht mehr zu übersehen, was die britische Ökonomie der EU-Ausstieg kostet. Im Vorjahr hat sich das Wachstum spürbar verlangsamt und wird laut IWF-Prognose auch 2018 unter 1,5 Prozent bleiben, was Rang sieben unter den G7-Staaten verspricht. Pro Woche verliert die Wirtschaft jetzt schon 350 Millionen Pfund (393 Mill. Euro), also genau die Summe, die nach dem Brexit Woche für Woche an den Gesundheitsdienst NHS gehen sollte, wie die Brexit-Trommler geprahlt hatten. Zugleich steigen die Lebenshaltungskosten wegen des Pfundverfalls weiter an, sodass die Realeinkommen stagnieren und die Binnennachfrage sinkt.
Wie zu erwarten, schrumpft die Nettozuwanderung aus den EU-Ländern dramatisch und hat einen historischen Tiefstand erreicht, zweifellos das Resultat anhaltender Unsicherheit und spürbarer Fremdenfeindlichkeit. Die von den Brexiteers gewünschte Abwanderung vorwiegend junger, gut qualifizierter EU-Migranten schlägt auf die Wirtschaftsleistung durch.
In diesem Winter nun sind alle Krisen, von denen die Insel seit Jahren heimgesucht wird, wieder präsent. Im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) – dank der Austeritätspolitik der Tories chronisch unterfinanziert – gilt für 1,8 Millionen Beschäftigte, dass der Zuwachs an Nominallohn nicht über einem Prozent liegen darf. Experten sagen, das NHS brauche zusätzlich mindestens fünf Milliarden Pfund pro Jahr, um halbwegs zu funktionieren. Die Regierung May rühmt sich, sie habe 700 Millionen Pfund zusätzlich mobilisiert (jedoch für mehrere Jahre) – die Wartelisten in den Hospitälern werden dadurch kaum kürzer.
Wie immer zur kalten Jahreszeit bescheren auch diesmal die 27 privaten Gesellschaften, die den Eisenbahnverkehr auf der Insel unter sich aufteilen, den Briten zweierlei: die obligaten Fahrpreiserhöhungen (plus 3,4 Prozent) zu Jahresbeginn, dazu die ebenso obligate Serie aus Chaos und Pannen. Kein Wunder, dass eine Mehrheit der Briten mittlerweile hinter Labour-Plänen zur Renationalisierung der Bahn steht.
Ansonsten hält sich die Regierung May bei Desinformation und Täuschung an das, was machbar ist, solange anti-europäische Medien den Brexit-Hardlinern den Rücken stärken. Brexit-Minister Davis kann das Parlament monatelang zum Narren halten. Erst schwadroniert er von umfangreichen Studien zu den Brexit-Folgen, über die sein Haus verfüge, aber geheim halten müsse, um der Brüsseler EU-Zentrale keine Handhabe zu bieten. Dann muss er auf Drängen des Unterhauses doch Einsicht gewähren, aber nur in bestimmte Passagen der vermeintlichen Studie. Dabei zeigte sich rasch, dass die angeblich hochgeheimen Berichte aus zugänglichen Quellen in aller Hast zusammengeschrieben sind. Wissenschaftliche Erhebungen über Folgen des Brexits für die 58 Sektoren der nationalen Ökonomie gibt es schlichtweg nicht. Und doch sitzt Davis nach wie vor in Brüssel am Verhandlungstisch, auch wenn May inzwischen als Gouvernante danebenhockt.
Sadiq Khan, Labour-Bürgermeister von London und erklärter Brexit-Gegner, hat eigene Untersuchungen in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse, wie sie Ökonomen der Universität Cambridge und der London School of Economics vorgelegt haben, sind verheerend. Das nach Jahren der Deindusstrialisierung mehr denn je auf Dienstleistungen, hauptsächlich Finanzdienstleistungen, fixierte Wirtschaftsleben würde bei einem harten Brexit massiv Schaden nehmen. Über eine halbe Million Jobs gingen verloren, die Einbußen bei Investitionen lägen bei etwa 50 Milliarden Pfund pro Jahr oder mehr – je nach Szenario. Allein London würde im Fall eines No-Deal-Brexits mindestens 87.000 Jobs verlieren, wird geschätzt, seine Wertschöpfung um wenigstens zwei Prozent schrumpfen.
Allerdings wären der Nordosten und die Midlands, die pro Kopf weit mehr nach Kontinentaleuropa ausführen als London, noch härter getroffen. Sadiq Khans Verdienst ist es, potenziellen Verlierern des Brexits reinen Wein kredenzt zu haben. Zu finden sind sie nicht zuletzt in den Regionen, in denen es klare Mehrheiten für den EU-Ausstieg gab. So wird die Stimmung grimmiger, selbst Nigel Farage, vormaliger Anführer der nationalistischen UKIP und einer der schrillen Herolde des Brexits, ist kleinlaut geworden. Er hält ein zweites Referendum zwischenzeitlich für möglich, wenn nicht gar für nötig, um Zweiflern ein für alle Mal das Maul zu stopfen. Was die wachsende Zahl der Brexit-Gegner natürlich freut.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.