Premier der kurzen Drähte

Italien Mario Draghi nutzt seine guten Verbindungen in der EU, um den Wiederaufbau nach der Pandemie voranzubringen
Ausgabe 18/2021

Mehr als 235 Milliarden Euro sind es geworden. 191,5 Milliarden kommen aus dem EU-Wiederaufbaufonds, 13 Milliarden aus anderen Brüsseler Quellen. Schließlich veranlasst Premier Mario Draghi, dass Italien noch einmal 30,6 Milliarden Euro an Krediten aufnimmt. In der Summe stehen dem Land damit die größten finanziellen Ressourcen europaweit zur Verfügung. Es startet denn auch mit dem ehrgeizigsten Programm. Noch im Januar war Regierungschef Giuseppe Conte mit einer Fünf-Parteien-Koalition gescheitert. Da Staatspräsident Sergio Mattarella inmitten der Pandemie keine Neuwahlen wollte, beauftragte er kurzerhand Mario Draghi mit der Regierungsbildung. Der regiert seit Ende Februar mit einer Sechs-Parteien-Allianz und führt das vierte von parteilosen Experten geprägte Kabinett seit 1993.

Mit Merkel ist er per Du

Der einstige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) genießt in der EU einen guten Ruf, hat die kürzesten Drähte zu allen, die Rang, Namen und Einfluss haben. Sollte künftig der Geldfluss aus dem Wiederaufbaufonds versiegen, kann das durch einen Anruf bei Kommissionspräsidentin von der Leyen geregelt werden. Monieren die Deutschen neue Gemeinschaftsschulden, von denen die Südländer mehr profitieren als andere, telefoniert Draghi mit Duzfreundin Angela Merkel, um Klartext zu reden und daran zu erinnern, wie sehr das von ihm durchgesetzte Ankaufprogramm der EZB einer Stabilisierung des Euro zugutekam.

Den Anti-Europäern in Italien verschlägt es die Sprache, auch die Fünf-Sterne-Partei wird stiller, das übliche Gezeter gegen die Eurokraten in Brüssel verstummt. Selbst Matteo Salvini und seine Gefolgschaft von der Lega haben eine komplette Volte hingelegt und im EU-Parlament für den Wiederaufbaufonds gestimmt – im Unterschied zu den rechtspopulistischen Gesinnungsfreunden von der AfD, der FPÖ und dem französischen Rassemblement National.

Anders als die deutsche Kanzlerin steht der parteilose Draghi über den Niederungen des Parteienstaates und kann als Intellektueller ein Vertreter der Elite par excellence sein, anders als Merkel sucht er Konfrontation, wo er das für geboten hält. Er zögert nicht, auf den gezielten Affront von Präsident Erdoğan während des Türkei-Besuchs Ursula von der Leyens hart zu reagieren, ist aber als Italiener zu höflich, um den stillosen Gastgeber einen Autokraten ohne Verstand und Benehmen zu nennen.

Draghi war bereit, dem vertragsbrüchigen Impfstoffhersteller AstraZeneca die Instrumente zu zeigen und der erste kerneuropäische Regierungschef zu sein, der einen Ausfuhrstopp für in Italien sowie der gesamten EU produzierte Impfstoffe beziehungsweise deren Zutaten öffentlich ins Spiel brachte.

Draghi verkörpert einen krisenbedingten Politikwechsel und die Distanz zu dem, was er in den 1990er Jahren für Italien befürwortet hat: eine Agenda der Deregulierung, die eines der umfangreichsten Privatisierungsprogramme in Europa nach sich zog. Heute verlangt die Parallelität von Pandemie, Wirtschaftskrise und Klimawandel einen anderen Kurs.

Ab Juni fließen die Gelder

Dem folgt Draghi, indem er nicht zuletzt die EU-Regularien so großzügig auslegt, wie es die Lage erfordert. Das bedeutet, trotz der Kredite und Zuschüsse aus dem Covid-19-Aufbaupaket neue Schulden aufzunehmen, so dass die Gesamtverbindlichkeiten bei über 2,6 Billionen Euro und Ende 2021 bei mehr als 160 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung liegen dürften. Noch gefällt das den Finanzmärkten, auf denen italienische Staatsanleihen eifrig gekauft und ins Portefeuille gesteckt werden. Bei Draghi wird angenommen, dass er weiß, was er tut, und nach der von ihm proklamierten Priorität handelt, sprich: die eigene Wirtschaft, Administration wie Justiz grundlegend reformieren will. Immerhin zeigte sich die öffentliche Verwaltung zwischen 2014 und 2020 außerstande, gut 43 Prozent der zugewiesenen Mittel aus dem EU-Strukturfonds auszugeben. Was mehr ins Gewicht fällt: Mindestens eine halbe Million Jobs sind seit März 2020 verloren gegangen. Zugleich wuchs die Zahl der Verarmten um eine Million. Auch in Italien traf die Pandemie die prekär Beschäftigten und Lebenden härter als die Wohlhabenden und hat eine ökonomische Kluft zum Abgrund werden lassen.

Nach den vorliegenden Plänen – sie gelten mehr als 120 Einzelprojekten – sollen 57 Milliarden Euro der EU-Gelder für die Energiewende ausgegeben werden, 42,6 Milliarden für die Digitalisierung, vorrangig den Ausbau schneller Breitbandnetze. Für Zuglinien auf Hochgeschwindigkeitstrassen sind 13 Milliarden vorgesehen, für den Bau energieeffizienter und erdbebensicherer Gebäude zehn Milliarden. Die Unternehmen können mit Steuernachlässen rechnen, wenn sie Hightech-Investitionen auf den Weg bringen.

Im Juni wird die EU-Kommission die eingereichten Pläne absegnen, kurz darauf dürften die ersten Gelder fließen. 10 bis 13 Prozent der Gesamtsumme sind als Vor- und Anschubfinanzierung geplant. Dann wird man sehen, inwieweit die Regierung Draghi die ihr zugedachten Ressourcen nach den offiziell verkündeten Kriterien einsetzt, um einer Modernisierung Italiens wie einem ökologischen und sozialen Umbau zu dienen. Fürs Erste finden keine Wahlen und Wahlkämpfe statt. Der Movimento 5 Stelle implodiert vor sich hin, und die rechte Lega kämpft um ihr Profil. Ob sich die zerstrittene Linke wenigstens vorläufig auf die radikalen Reformpläne Mario Draghis einlässt, wie das eine Mehrheit der Italiener zu tun scheint, ist ungewiss. Immerhin haben sie es mit einem Politiker zu tun, der sich selbst als „liberalen Sozialisten“ bezeichnet.

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