Mehr als 235 Milliarden Euro sind es geworden. 191,5 Milliarden kommen aus dem EU-Wiederaufbaufonds, 13 Milliarden aus anderen Brüsseler Quellen. Schließlich veranlasst Premier Mario Draghi, dass Italien noch einmal 30,6 Milliarden Euro an Krediten aufnimmt. In der Summe stehen dem Land damit die größten finanziellen Ressourcen europaweit zur Verfügung. Es startet denn auch mit dem ehrgeizigsten Programm. Noch im Januar war Regierungschef Giuseppe Conte mit einer Fünf-Parteien-Koalition gescheitert. Da Staatspräsident Sergio Mattarella inmitten der Pandemie keine Neuwahlen wollte, beauftragte er kurzerhand Mario Draghi mit der Regierungsbildung. Der regiert seit Ende Februar mit einer Sechs-Parteien-Allianz und führt das vierte von parteilosen Experten geprägte Kabinett seit 1993.
Mit Merkel ist er per Du
Der einstige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) genießt in der EU einen guten Ruf, hat die kürzesten Drähte zu allen, die Rang, Namen und Einfluss haben. Sollte künftig der Geldfluss aus dem Wiederaufbaufonds versiegen, kann das durch einen Anruf bei Kommissionspräsidentin von der Leyen geregelt werden. Monieren die Deutschen neue Gemeinschaftsschulden, von denen die Südländer mehr profitieren als andere, telefoniert Draghi mit Duzfreundin Angela Merkel, um Klartext zu reden und daran zu erinnern, wie sehr das von ihm durchgesetzte Ankaufprogramm der EZB einer Stabilisierung des Euro zugutekam.
Den Anti-Europäern in Italien verschlägt es die Sprache, auch die Fünf-Sterne-Partei wird stiller, das übliche Gezeter gegen die Eurokraten in Brüssel verstummt. Selbst Matteo Salvini und seine Gefolgschaft von der Lega haben eine komplette Volte hingelegt und im EU-Parlament für den Wiederaufbaufonds gestimmt – im Unterschied zu den rechtspopulistischen Gesinnungsfreunden von der AfD, der FPÖ und dem französischen Rassemblement National.
Anders als die deutsche Kanzlerin steht der parteilose Draghi über den Niederungen des Parteienstaates und kann als Intellektueller ein Vertreter der Elite par excellence sein, anders als Merkel sucht er Konfrontation, wo er das für geboten hält. Er zögert nicht, auf den gezielten Affront von Präsident Erdoğan während des Türkei-Besuchs Ursula von der Leyens hart zu reagieren, ist aber als Italiener zu höflich, um den stillosen Gastgeber einen Autokraten ohne Verstand und Benehmen zu nennen.
Draghi war bereit, dem vertragsbrüchigen Impfstoffhersteller AstraZeneca die Instrumente zu zeigen und der erste kerneuropäische Regierungschef zu sein, der einen Ausfuhrstopp für in Italien sowie der gesamten EU produzierte Impfstoffe beziehungsweise deren Zutaten öffentlich ins Spiel brachte.
Draghi verkörpert einen krisenbedingten Politikwechsel und die Distanz zu dem, was er in den 1990er Jahren für Italien befürwortet hat: eine Agenda der Deregulierung, die eines der umfangreichsten Privatisierungsprogramme in Europa nach sich zog. Heute verlangt die Parallelität von Pandemie, Wirtschaftskrise und Klimawandel einen anderen Kurs.
Ab Juni fließen die Gelder
Dem folgt Draghi, indem er nicht zuletzt die EU-Regularien so großzügig auslegt, wie es die Lage erfordert. Das bedeutet, trotz der Kredite und Zuschüsse aus dem Covid-19-Aufbaupaket neue Schulden aufzunehmen, so dass die Gesamtverbindlichkeiten bei über 2,6 Billionen Euro und Ende 2021 bei mehr als 160 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung liegen dürften. Noch gefällt das den Finanzmärkten, auf denen italienische Staatsanleihen eifrig gekauft und ins Portefeuille gesteckt werden. Bei Draghi wird angenommen, dass er weiß, was er tut, und nach der von ihm proklamierten Priorität handelt, sprich: die eigene Wirtschaft, Administration wie Justiz grundlegend reformieren will. Immerhin zeigte sich die öffentliche Verwaltung zwischen 2014 und 2020 außerstande, gut 43 Prozent der zugewiesenen Mittel aus dem EU-Strukturfonds auszugeben. Was mehr ins Gewicht fällt: Mindestens eine halbe Million Jobs sind seit März 2020 verloren gegangen. Zugleich wuchs die Zahl der Verarmten um eine Million. Auch in Italien traf die Pandemie die prekär Beschäftigten und Lebenden härter als die Wohlhabenden und hat eine ökonomische Kluft zum Abgrund werden lassen.
Nach den vorliegenden Plänen – sie gelten mehr als 120 Einzelprojekten – sollen 57 Milliarden Euro der EU-Gelder für die Energiewende ausgegeben werden, 42,6 Milliarden für die Digitalisierung, vorrangig den Ausbau schneller Breitbandnetze. Für Zuglinien auf Hochgeschwindigkeitstrassen sind 13 Milliarden vorgesehen, für den Bau energieeffizienter und erdbebensicherer Gebäude zehn Milliarden. Die Unternehmen können mit Steuernachlässen rechnen, wenn sie Hightech-Investitionen auf den Weg bringen.
Im Juni wird die EU-Kommission die eingereichten Pläne absegnen, kurz darauf dürften die ersten Gelder fließen. 10 bis 13 Prozent der Gesamtsumme sind als Vor- und Anschubfinanzierung geplant. Dann wird man sehen, inwieweit die Regierung Draghi die ihr zugedachten Ressourcen nach den offiziell verkündeten Kriterien einsetzt, um einer Modernisierung Italiens wie einem ökologischen und sozialen Umbau zu dienen. Fürs Erste finden keine Wahlen und Wahlkämpfe statt. Der Movimento 5 Stelle implodiert vor sich hin, und die rechte Lega kämpft um ihr Profil. Ob sich die zerstrittene Linke wenigstens vorläufig auf die radikalen Reformpläne Mario Draghis einlässt, wie das eine Mehrheit der Italiener zu tun scheint, ist ungewiss. Immerhin haben sie es mit einem Politiker zu tun, der sich selbst als „liberalen Sozialisten“ bezeichnet.
Kommentare 6
Der Mann, der per EZB deutsche Altersversorgungssysteme ins Wanken und deutsche Sparer um mehrere 100 Milliarden Zinseinnahmen gebracht hat. Vergessen sollten deutsche Steuerzahlerdabei nicht, dass sie mindestens 26 Prozent dieser Summe verbürgen und den dafür aufgenommen Kredit bis 2058 tilgen müssen. Im Gegenzug stehen für die 235 Milliarden Euro Zusagen und Versprechungen Draghis im Raum, gegeben von einem Politiker, dessen politisches Verfallsdatum schon in greifbare Nähe gerückt ist.
Wenn Italien sich wirtschaftlich und gesellschaftlich erholt, ist das eine gute Nachricht.
Der Herr Draghi hat vor allem einen sehr kurzen Draht zu Goldman Sachs.
Das Problem ist das Euro-Design! In dieser Konstruktion sind die Euro-Länder nur Währungsnehmer und -nutzer. Eine Währungsunion mit geldpolitischer und fiskalpolitischer Souveränität (USA, Kanada, GB, Japan usw.) hätte da ganz andere Möglichkeiten. Eine Fiskalunion (von Schuldenunion sprechen nur interessierte neoliberale Kreise) mit zugehöriger Zentralbank könnte dann gemeinschaftliche Anleihen begeben, die uns nicht nur von den Chinesen aus der Hand gerissen würden. Auch wichtig: Die sogenannten Märkte könnten dann nicht mehr auf den Bankrott einzelner Mitgliedsstaaten spekulieren. Schuldenrückzahlung - wenn denn wirklich zielfürend - würde wie jetzt schon durch Umschuldung und endlose Prolongation geschehen. Die Eurozone wäre damit so handlungsfähig wie die o.a. Staaten. Gegen diese "Vertiefung" der Union sind vor allem jene, die von einem schwachen Staat profitieren. Herr Draghi hat sich als ehemaliger Investmentbanker sowohl als EZB-Präsident als auch jetzt als italienischer Premierminister als recht lernfähig erwiesen. Er dient jetzt anderen Interessen, weiß aber, wie es geht. Für Italien und die EU vielleicht sogar ein Glücksfall.
„Das Problem ist das Euro-Design!“
Ja, aber das macht nur einen Teil des Problems aus. Das eigentliche, das Grundproblem ist das EU-Design mit seiner mangelhaften Verfasstheit der EU und ihrem Legitimationsdefizit.
»Die Europäische Union ist ein Staatenverbund aus 27 europäischen Ländern. Außerhalb des geographischen Europas umfasst die EU Zypern und einige Überseegebiete. Sie hat insgesamt etwa 450 Millionen Einwohner«, liest man bei Wikipedia.
Aber so einfach ist es nicht. Die EU hat weder ein eigenes Staatsgebiet, noch hat sie ein europäisches Staatsvolk, also einen Demokratie begründenden Volkssouverän, sondern nur die von den Mitgliedstaaten repräsentierten nationalen Staatsvölker.
Die im europäischen Parlament vertretenen Parteien stellen noch längst keine eigenständigen europäischen Parteien dar.
Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments rekrutieren sich aus den Mitgliedstaaten bzw. aus den von diesen repräsentierten nationalen Staatsvölkern – von jeweils mindestens sechs bis jeweils maximal 96 Ab-geordneten.
2005: Als die europäischen Einwohner über die EU-Verfassung – den praktisch identischen Vorläufer des Lissabon-Vertrags – abstimmen sollten, lehnten die Bürgerinnen und Bürger von Frankreich und den Niederlanden sie im Rahmen eines Referendums ab.
Also wurde beim Lissabon-Vertrag so getrickst, dass eine Zustimmung der Bevölkerungen nicht mehr notwendig war. Die nationalen Parlamente ließen das ohne ein Wort des Protests mit sich machen.
In Deutschland reagierten die meisten Abgeordneten erst, als das Bundesverfassungsgericht sie darauf hinwies, dass die Beteiligungsrechte des Bundestags durch das deutsche Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag nicht ausreichend gewahrt wurden.
Der EU-Verfassungsvertrag sollte ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten. Doch nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ratifizierte eine Reihe von Mitgliedstaaten den Vertrag lieber nicht, verzichtete hierfür auf Abstimmungen hierüber im eigenen Land, wodurch der EU-Verfassungsvertrag keine Rechtskraft erlangte.
Stattdessen schlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs im Dezember 2007 ersetzend den Vertrag von Lissabon ab, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat.
Mit dem Lissabon-Vertrag sollten u. a. von 2014 an Mehrheitsentscheidungen der EU-Staaten anstatt der bisher geltenden Einstimmigkeit eingeführt werden.
Eine EU-Bürgerabstimmung über einen EU-Verfassungsvertrag ist also nie erfolgt, sondern wurde im Dezember 2007 durch die europäischen Staats- und Regierungschefs mit dem Vertrag von Lissabon ersetzt.
Die Europäische Union ist entsprechend ein Kartell der europäischen Regierungen.
Was in dem Artikel nicht erwähnt wird. Die italienischen Wähler*innen hatten bei den letzten Wahlen mehrheitlich Parteien gewählt, die das EU-Diktat abgewählt haben. Es waren zentristische und rechte Parteien, wie die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung. Und nun wurde ohne Neuwahlen ein EU-Bürokrat zum Ministerpräsidenten installiert, die genau jene Politik umsetzen soll, die die Wähler*innen abgelehnt haben. Das kennen wir natürlich auch von vielen anderen Ländern wie Spanien, Griechenland etc. Es ist schon auffällig, dass die EU-Freund*innen es nicht mehr stört, dass die rechte Lega wieder mit in der Regierung ist. In der Zeit, als sie mit der Fünf-Sterne-Bewegung regierte, wurde hingegen teilweise der drohende Faschismus an die Wand gemalt. Dass zeigt doch, dass es bei der Kritik an der Lega und Co. weniger um Rechte für Geflüchtete geht sondern um die EU-Freundlichkeit. Es wäre zu hoffe, dass sich auch in Italien eine LInke wieder neuorganisiert,die sich keine Ilussionen über die EU macht. Dass könnte doch gerade in einem Augenblick günstig sein, wo die kapitalfreundliche Lega zeigt, dass ihre EU-Kritik genauso rechter Populismus ist, wie ihre frühere Kamapgne gegen Südtialien.
Ein sehr guter Artikel über die Regierung Draghi findet sich hier: