Theresas Träume

EU-Austritt Premierministerin May neigt weiter zum Wunschkonzert, Labour-Chef Corbyn sollte sich ernsthaft auf Neuwahlen vorbereiten
Ausgabe 10/2018
Spaziergang am Abgrund: Die Premierministerin scheint in ihrer eigenen Realität zu wandeln
Spaziergang am Abgrund: Die Premierministerin scheint in ihrer eigenen Realität zu wandeln

Foto: Jack Taylor/Getty Images

Zwei Offenbarungen von zwei Spitzenpolitikern in einer Woche – die Briten wurden geradezu verwöhnt. Jeremy Corbyn trat erstmals an, für den Kurs der Labour-Party in Sachen Brexit mehr Vorgaben zu machen als üblich. Bisher galt die Parole: Besser nicht darüber reden und wenn, dann möglichst bei vagen Formulierungen bleiben. Was vielen als taktisches Meisterstück galt, war auch von Inkompetenz befeuert und einem linken Dogmatismus geschuldet, der die EU seit jeher für ein Verhängnis hält. Zuletzt freilich geriet der Labour-Vorsitzende immer stärker unter Druck, da zusehends mehr Unterhausabgeordnete und Parteimitglieder verlangten, dass angesichts des Chaos im Regierungslager bei Labour Klarheit über die Konditionen des Brexits herrschen müsse. Verfügt die Partei nun über eine Brexit-Strategie, die den Namen verdient?

Corbyns rhetorisches Talent ist begrenzt, aber immer noch berauschend im Vergleich zur deutschen Mutter der Sprechblasen. Statt der klaren Botschaft, Großbritannien solle in der Zollunion mit der EU verbleiben, schon um das Problem der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland handhabbar zu machen, sprach er sich dafür aus, „eine“ – also nicht „die“ (jetzige) – Zollunion mit der EU anzustreben. Das hieß so viel wie kein Modell Schweiz, kein Modell Norwegen mit der Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), aber ein bisschen vom Muster des EU-Aspiranten Türkei, der zur Zollunion gehört, aber mit limitierten Rechten. Corbyns Option klang wie eine Konzession an die Brexiteers (zu denen der Labour-Führer nicht zählen will), als er betonte, nur in „einer“ (anderen) Zollunion werde Großbritannien auch eigene Handelsverträge aushandeln können.

Was dabei übersehen wird: Sollten die Briten der derzeitigen Zollunion den Rücken kehren, müssten sie über 70 internationale Abkommen neu verhandeln, die für sie im Moment – dank ihrer EU-Mitgliedschaft – noch gelten. Das dürfte dauern.

Der Wahn, man habe die Wahl

Premierministerin Theresa May muss nach der knapp gewonnenen Unterhauswahl vom 8. Juni 2017 im Parlament ohne absolute Mehrheit auskommen und hat ein starkes Brexit-Mandat, das sie mit dem vorgezogenen Votum haben wollte, nicht erhalten. Sie hängt seither von den zehn Stimmen der erzreaktionären nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) ab und muss vor der Meute der „Brextremisten“ in der eigenen Partei zittern, die stark genug ist, sie jederzeit zu stürzen. Am 2. März nun hat May in London versucht, ihre Verhandlungsziele vorzustellen. Offiziell richtete sich die Rede an die EU, deren Verhandlungskommission kurz zuvor den Entwurf für ein finales Abkommen vorgelegt hatte. Darin war vom Verbleib Nordirlands in der vorhandenen Zollunion die Rede, damit eine harte Grenze quer über die irische Insel zu vermeiden sei.

Für May unannehmbar, schließlich verlasse man die EU, um die „Kontrolle über unsere Grenzen, unser Geld und unsere Gesetze“ zurückzuerlangen. Die Formel schien geeignet, einerseits die verfeindeten Lager in ihrer Partei zufriedenzustellen, zugleich den Gesprächsfaden mit der EU keiner übermäßigen Zerreißprobe auszusetzen. Auch deshalb wohl gab es einige vorsichtig angedeutete Konzessionen in Richtung Brüssel. Ja, man werde in einigen der EU-Agenturen bleiben, deren Regeln akzeptieren und Beiträge zahlen, bei Luftfahrt etwa, bei Arznei- und Lebensmitteln ebenso. Zudem werde der Europäische Gerichtshof zumindest für eine Übergangszeit eine wichtige Rolle spielen, doch sei an einen Verbleib im gemeinsamen Markt wie in der Zollunion nicht gedacht. Mays Rhetorik zeigte einmal mehr, dass sie keine blasse Ahnung hat, wie nach dem EU-Ausstieg mit der irischen Grenze umgegangen werden soll. Die angebliche Einigung mit Brüssel vom Dezember 2017 war nichts als ein mit Phrasen übertünchter Formelkompromiss, von dem gerade die Farbe abblättert. Um das zu kaschieren, präsentierte May eine weitere Variante des Wünsch-dir-was alias Rosinenpickens: Sie hätte gern einen maßgeschneiderten Handelsvertrag mit der EU, bei dem in ausgewählten Sektoren EU-Regeln gelten sollten, in anderen wahlweise nicht. Offenkundig wähnt sich ihre Regierung noch immer in dem Glauben, sie habe die Wahl und müsse kaum Rücksicht darauf nehmen, welche Interessen den Verhandlungspartner EU beseelen. Und das, nachdem sich die Erwartung in London, die Union werde wegen des Brexits auseinanderfallen, kaum erfüllt hat, auch wenn nicht alle EU-Staaten die gleichen Prioritäten setzen (s. Grafik). Noch einmal hat May in ihrer Londoner Rede das Fantasiegebilde eines Handelsdeals nach Art des CETA-Vertrags zwischen der EU und Kanada bemüht, aber mit etlichen Konzessionen an die Briten, besonders bei Finanzdienstleistungen.

Weiter umstritten

Grenze Irland – Nordirland

Die EU-Verhandler wollen nach dem Brexit Grenzkontrollen zwischen der irischen Republik und Nordirland vermeiden. London sieht dadurch die eigene Souveränität verletzt.

Status bis zum Brexit

Aus Brüsseler Sicht gelten für den Austrittskandidaten alle EU-Gesetze und -Regeln bis zum bitteren Ende. Auch der Beitrag zum EU-Haushalt wäre weiter fällig, was die Regierung May noch nicht akzeptiert hat.

EU-Bürger in Großbritannien

Wenn am 29. März 2019 der Austritt vollzogen ist, sollen EU-Bürger, die nach Großbritannien ziehen, weniger Rechte haben als dort bereits lebende EU-Bürger, so die britische Position. Die EU verwirft das.

Man wolle den „harten Fakten“ des Ausstiegs ins Auge sehen, mit Brüssel „ehrlich und offen“ sprechen, so Mays Versprechen. Wer ihr wohlgesinnt ist, mag darin einen Anflug von wiederkehrender Vernunft und britischem Pragmatismus erkennen. Beides wäre nötig, um wenigstens die Bedingungen für eine Übergangsperiode bis Ende 2020 noch rechtzeitig aushandeln zu können. Die Hardliner in der Tory-Fraktion kümmert das wenig. Auf Schadensbegrenzung lässt deshalb nur ein Aufstand der europafreundlichen Brexit-Gegner im Regierungslager hoffen, die sich mit Labour und Anti-Brexit Parteien wie den Liberaldemokraten und der Scottish National Party (SNP) verbünden müssten. Voraussetzung wäre, dass Labour selbst über ein ausgefeiltes Brexit-Tableau verfügt, wonach es bisher (noch) nicht aussieht.

Dabei muss sich Jeremy Corbyn angesichts der deutlichen Pro-EU- und Anti-Brexit-Mehrheitsmeinung in seiner Partei und bei seinen Wählern weniger Sorgen machen als Theresa May. Spätestens wenn die konservative Regierung antritt, erneut ihr Gesetzespaket zu allen bislang im Königreich geltenden EU-Regularien durchs Parlament zu bringen, sollte Labour so weit sein, Paroli zu bieten. Dazu müsste der Parteichef jedoch vor allem über einen Schatten springen und seine wichtigsten Unterstützer mäßigen. Zum Beispiel die Gruppe Momentum, die gerade damit beschäftigt ist, die Parteimaschine unter ihre Kontrolle zu bringen und unliebsame Parlamentsabgeordnete zu disziplinieren. Besser wäre es, das Corbyn-Lager würde sich ernsthaft darauf vorbereiten, nach eventuellen Neuwahlen den ganzen Brexit-Schlamassel von den Tories zu übernehmen und bis zum Austrittstag am 29. März 2019 verdammt wenig Zeit zu haben.

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