Mit 61,8 Prozent – deutlich mehr als die 59,5 Prozent, mit denen er im Sommer 2015 überraschend zum Labour-Chef gewählt wurde – hat Jeremy Corbyn seinen Herausforderer Owen Smith geschlagen. Auch diesmal war das klaren Mehrheiten bei allen drei Gruppen der Wahlberechtigten zu verdanken. Corbyn holte 59 Prozent bei den 343.500 Briten, die schon vor dem 12. Januar 2016 Parteimitglieder waren, 60 Prozent bei Gewerkschaftern, die individuell affiliierte Parteimitglieder sind (die kollektive Mitgliedschaft wurde von Tony Blair abgeschafft, um Gewerkschaftseinfluss zurückzudrängen), und noch einmal 70 Prozent bei den 123.000 Unterstützern, die sich offiziell registrieren ließen und dafür je 25 Pfund zahlten. So viel steht fest, seit Corbyn führt, ist die Labour Party eine andere. Ihre Mitgliedschaft hat sich verdreifacht, seit dem Brexit wächst die Partei so schnell wie nie zuvor. Mit 680.000 Mitgliedern ist sie im Moment die mitgliederstärkste sozialdemokratische Partei Europas.
Vor allem die Basis ist heute eine ganz andere als im Mai 2015. Seinerzeit trat mit der Niederlage beim Unterhausvotum der glücklose Ed Miliband zurück, und der Kampf um die Neuausrichtung der Partei begann. Miliband wollte den Einfluss der Gewerkschaften und der Traditionslinken weiter schwächen, indem er die Urwahl zum Parteivorsitz für Unterstützer öffnete, die der Partei nicht als Mitglieder angehören mussten. Das Gegenteil trat ein – Labour ist heute weit jünger, weit urbaner, weit linker als zuvor. Und die Gewerkschaften sind nicht mehr marginalisiert.
Sofort nach Bekanntgabe des Corbyn-Triumphs begann der viertägige Parteikongress in Liverpool, der erkennen ließ: Der Streit um die Ausrichtung der Partei ist noch keineswegs entschieden. Einzelne Parteirechte haben kapituliert, doch gab es keine nennenswerte Abspaltung. Dazu war Corbyns Sieg zu eindeutig. Seine Gegner, keineswegs nur Anhänger von Blair und New Labour, bleiben in der Partei. Deren Mandatsträger, überwiegend Corbyn-Skeptiker, geben nicht so schnell auf. Noch hält die Parteirechte eine Mehrheit im Nationalen Präsidium und kontrolliert den Parteiapparat, der allerdings an Gewicht einbüßt, da Labour derzeit mehr Massenbewegung denn traditionelle Partei ist.
Gerungen wird um die Restbestände von New Labour, die Corbyn und sein Anhang entsorgen wollen, ohne dabei die Partei zu säubern, wie das manche gern hätten. Aber es wird wieder offen von Sozialismus geredet, was einer Partei mit dieser Tradition gut ansteht. Die Klausel IV des Parteistatuts von 1918 wieder einzuführen, die Blair 1995 streichen ließ, wäre ein wichtiges Symbol. Danach strebt Labour das Gemeineigentum aller Produktionsmittel (common ownership of the means of production, distribution and exchange) an.
Vorerst jedoch geht es nicht darum, sondern um einen Politikwechsel, um eine Alternative zu Austeritätsdogmen. Corbyn sagte bei seiner Parteitagsrede in Liverpool: „Die Menschen haben die Nase voll vom freien Markt, er hat zu grotesker Ungleichheit geführt, zu stagnierendem Wohlstand und zu endlosen Problemen nach Militärinterventionen. Die große Mehrheit des Volkes wird von der Macht ausgeschlossen.“
Ein mutiger Schritt
Schatten-Schatzkanzler John McDonnell, Corbyns wichtigster Vordenker, plädiert deshalb dafür, die britischen Eisenbahnen zu renationalisieren, auch wenn vorerst unklar bleibt, was er sich unter „neuen Formen demokratischen öffentlichen Eigentums“ vorstellt. Zu Kernpunkten in Corbyns und McDonnells Zehn-Punkte-Programm gehört die Aufhebung der Schuldenbremse für die Kommunen, was den Bau von mindestens 12.000 Sozialwohnungen erlauben soll. 500 Milliarden Pfund in zehn Jahren würde eine Labour-Regierung in die Hand nehmen, um sie in die Infrastruktur und die total unterfinanzierten öffentlichen Dienste zu investieren. Doch nach welchem Plan und mit welchen Prioritäten soll das geschehen? Die Details sind wichtig, denn die Folgen jahrzehntelanger Sparpolitik lassen sich nicht einfach mit ein paar Geldspritzen beseitigen.
Corbyn und McDonnell schlagen einen New Deal vor: Dazu zählen eine um 1,5 Prozent erhöhte Unternehmensteuer, um Investitionen in das Bildungssystem – etwa einen Sonderfonds für den Kunst- und Musikunterricht – zu finanzieren, das Streichen einiger Zumutbarkeitsklauseln bei der Arbeitslosenhilfe, ein Plus beim Mindestlohn und das Kassieren des Trade Union Act, der die Gewerkschaften knebelt. Dazu will eine künftige Labour-Regierung keine Beschränkungen der Zuwanderung akzeptieren, womit sich Corbyn offen gegen das erklärte Hauptmotiv der Brexit-Befürworter stellt. Angesichts der Stimmung auf der Insel ein mutiger Schritt.
Böses Erwachen
John McDonnell hat zu alldem eine ehrgeizige Vision, er will eine Wählerschaft, die jahrzehntelang im neoliberalen Ungeist indoktriniert wurde und täglich von den Massenmedien mit den entsprechenden Glaubensformeln berieselt wird, zum Verständnis elementarer ökonomischer Zusammenhänge führen. Das wäre eine Herkulesaufgabe, zumal in einer Partei, die den Konflikt um die neoliberalen Patentrezepte von New Labour nicht einfach abschütteln kann.
Es gab ein böses Erwachen für Corbyn, als sich etliche der Ökonomen, die er als Berater um sich scharen konnte, nach dem Brexit-Votum verabschiedet haben: Thomas Piketty, Ann Pettifor, Diane Elson und Mariana Mazzucato. In Großbritannien gibt es, ganz anders als in Deutschland, nach wie vor viele prominente Ökonomen, die sich der Austeritätspolitik seit langem energisch widersetzen. Corbyn braucht sie in seinem Team, im Parlament und in der Partei – linke Enthusiasten, die keine Ahnung haben, hat er mehr als genug.
Moderate Labour-Politiker zweifeln an Corbyns Qualitäten als Wahlkämpfer, sie sehen nur einen Weg zurück an die Macht, und der führt über die Städte und Gemeinden. Immerhin haben in London und Bristol zuletzt Labourleute die Rathäuser erobert. Manchester hofft man demnächst zu gewinnen. Die große Mehrzahl der Labour-Bürgermeister – auch die Wahlsieger Sadiq Khan und Marvin Rees – sind mitnichten Parteigänger Corbyns und halten diesen eher für einen Windmacher. Der Parteichef wird sie daher für seinen Kurs gewinnen müssen, was auch deshalb geboten erscheint, weil Premierministerin Theresa May 2017 Neuwahlen ansetzen könnte, um sich ein Mandat für die ökonomisch heiklen EU-Exitverhandlungen zu verschaffen.
Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Unterhaus steht der neuen Labour-Spitze weiter distanziert gegenüber. Es ist Unsinn und besonders unter deutschen Corbyn-Fans beliebt, Corbyn-Kritiker zu Blairisten oder harten Austerianern zu erklären – auch wenn die Polemik gegen den Labour-Vorsitzenden oft überzogen wirkt und ihm eine Hausmacht unter den britischen Medien vollends verwehrt bleibt. Ein linker Messias ist er nicht, gewiss auch kein großer Redner, doch hat dieser Parteichef zuletzt an Statur und Selbstsicherheit gewonnen. Nun muss er nur noch Menschen für sich einehmen, die viele seiner Überzeugungen nicht teilen.
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