Ziel Weltspitze

China Der Volkskongress nutzt die Corona-Krise, um die Wirtschaft neu auf Kurs zu bringen
Ausgabe 10/2021
Anders als häufig suggeriert, ist der Kongress kein Treffen der Claqueure
Anders als häufig suggeriert, ist der Kongress kein Treffen der Claqueure

Foto: Imago Images

Höher geht es nicht im Reich der Mitte: Der Volkskongress tagt in Peking, und zwar ohne Verschiebung wie im Vorjahr. Das ist ein Signal: China hat Corona gemeistert und die Pandemie besiegt. Impfstoffe aus eigener Forschung und Produktion gibt es reichlich, auch wenn es noch dauern wird, bis 1,4 Milliarden Menschen vollends immunisiert sind. Man liefert seine Vakzine großzügig in Entwicklungsländer, auch in EU-Staaten. Impfstoff-Diplomatie, die auf dem Balkan wie in Afrika wirkt.

Alles, was westliche Medien bewegt, Hongkong und Xinjiang etwa, beschäftigt die Chinesen nur am Rande. Für den Volkskongress wie das einheimische Publikum ist anderes wichtig, der neue Fünfjahrplan (2021 – 2025) zuerst. Anders als häufig suggeriert, ist der Volkskongress kein Treffen der Claqueure, gehen doch der Tagung in Peking über Wochen zahllose Meetings im ganzen Land voraus. Es gibt in der Volksrepublik durchaus eine kritische Öffentlichkeit. Auch ist das Land weit weniger zentralisiert, als man in Europa glaubt. Zum Volkskongress wollen mächtige und eigensinnige Provinzfürsten beachtet sein, die wiederum auf Großunternehmen, Metropolen und Berufsverbände in ihrem Sprengel Rücksicht nehmen.

Kein sauberes Wachstum

Für die chinesische Volkswirtschaft gab es Anfang 2020 einen temporären Einbruch von gut zehn Prozent, aber schon im II. Quartal setzte ein Aufschwung ein mit Wachstumsraten um elf Prozent, was sich im III. und IV. Quartal fortsetzte, freilich in gemäßigtem Tempo mit Quoten von 4,9 bzw. 3,8 Prozent. Dabei ersetzte die Binnennachfrage, was der Außenhandel schuldig blieb. Da die Chinesen nicht mehr reisen konnten, gaben sie ihr Geld zu Hause aus, und es kam trotz eines anfangs drastischen Lockdowns im Jahresschnitt landesweit zu einem Wachstumsschub von drei Prozent. Trotzdem lag der Anteil des privaten Konsums am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lediglich bei 38 Prozent, während die USA wie der EU vergleichbare Wert um die 70 ausweisen. Mittlerweile boomt der Außenhandel wieder, sodass China im Ranking der EU-Handelspartner die USA klar überholt hat. Es gibt nichts, was derzeit der deutschen Exportökonomie mehr helfen würde als Nachfrage aus China. Woran sich nichts ändern dürfte, wenn die 2021 anvisierte Wachstumsrate von sechs Prozent erreicht wird. Für China fast das Vorkrisenniveau und höchst ehrgeizig, wenn man bedenkt, dass die chinesische Führung seit Jahren daran arbeitet, den Wirtschaftskurs zu korrigieren: weg von der Ausfuhrabhängigkeit hin zum selbsttragenden Aufschwung eines riesigen Binnenmarkts durch mehr Infrastruktur, Abbau enormer regionaler Disparitäten, Förderung des privaten Konsums und eines modernen Sozialversicherungssystems mit einer Alterssicherung für jeden. Corona hat der Staats- und Parteiführung geholfen, diesen Pläne schneller und mit rigoroseren Eingriffen Geltung zu verschaffen als gedacht.

Grund zur Sorge bietet die Umweltpolitik. China produziert dreimal mehr Treibhausgase pro Jahr als die gesamte EU, verfolgt aber mindestens ebenso ehrgeizige Ziele in der Klimapolitik. In den nächsten drei bis vier Jahrzehnten soll der Ausstoß von Kohlendioxid auf null gesenkt werden. Dafür ist im neuen Fünfjahrplan eine deutliche Abkopplung der CO2-Emissionen vom BIP-Wachstum vorgesehen: Der Ausstoß soll bis 2025 um 18 Prozent pro BIP-Einheit sinken. Das stand schon im vorherigen Plan, wurde aber nicht erreicht. Zu Recht wird von Kritikern in China wie in Europa auf die nach wie vor starke Abhängigkeit von fossilen Energien verwiesen. Erneuerbare Energien sollen daher durch den Ausbau von Wind-, Solar- und Wasserkraftanlagen in den nächsten Jahren 20 Prozent und mehr des Energiehaushalts bestreiten. Noch aber dominieren Kohle, Öl und Gas den Energiemix, werden Kohlekraftwerke in Betrieb genommen, wenn auch modernisierte.

Die Regierung von Premier Li Keqiang setzt auf neue Technologien, die das Absorbieren und Einlagern von Kohlendioxid in großem Stil erlauben sollen, was gut zu dem ebenso ehrgeizigen Ziel passt, in den nächsten 20 Jahren zur technologisch führenden Nation der Welt aufzusteigen und bei sämtlichen Innovationen den Ton anzugeben. Atomenergie auf dem neuesten Stand der Technik wäre eine Option, die im Moment noch nicht im Vordergrund steht, aber auf die Agenda geraten könnte, wenn der Umstieg auf die neuen CCS-Technologien nicht schnell genug vorankommt.

Vor zehn Jahren von Xi Jinping angekündigt, scheint der Kampf gegen die Armut auf dem Land gewonnen, wenn auch mit regionalen Unterschieden und einer extrem niedrig angesetzten Armutsschwelle. Immerhin ist die Zahl der Wanderarbeiter, der am schlechtesten bezahlten, am stärksten ausgebeuteten Gruppe, mittlerweile stark reduziert, weil gerade hier Fortschritte beim Arbeitsrecht wirksam sind. Ein weiterer Meilenstein, der im Westen auf donnerndes Schweigen, weil pure Ignoranz stößt: Anfang 2021 ist das neue Zivilgesetzbuch in Kraft getreten. Im Jahr ihres 100. Geburtstags kann sich die KP Chinas rühmen, dem Land einen Code Civil gegeben zu haben. Eine Leistung, auf die man mit Recht stolz ist, zumal die Reform des Strafrechts davon profitiert.

Hongkonger Fehler

Es gibt in China autonome Gebiete ethnischer Minderheiten, deren Rechte respektiert werden, solange sich keine separatistischen Bewegungen rühren. Darauf reagiert die KP allergisch, der Erhalt territorialer Integrität ist eine Säule ihrer Legitimation. Das sollte man angesichts der Debatte um Hongkong wissen, das in schweres ökonomisches Fahrwasser geraten ist, weil die Festlandchinesen nicht nur wegen Corona fernbleiben, sondern längst in Schanghai und anderen Metropolen auf Einkaufstour gehen. Investoren aus der Volksrepublik bleiben weg oder ziehen Kapital ab. Die Demokratiebewegung ist dem Riesenfehler verfallen, sich auf Sprüche von Donald Trump und seinesgleichen zu verlassen. Die chinesische Führung operiert mit legalen Mitteln, denn das absurde Wahlrecht in Hongkong, ein vergiftetes Erbstück der Briten, ist mehr als reformbedürftig. Sie versucht derzeit recht brachial, möglichen oder vermeintlichen Separatisten jeden Spielraum zu nehmen.

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