Zwischen Parteivolk und Volkspartei

Großbritannien Jeremy Corbyn wird sich bei der Urwahl erneut als Parteichef durchsetzen – und Labour womöglich spalten?
Ausgabe 35/2016
Jeremy Corbyn rät Herausforderer Owen Smith zur Platz- statt Siegwette
Jeremy Corbyn rät Herausforderer Owen Smith zur Platz- statt Siegwette

Foto: Jeff J . Mitchell/Getty Images

Zwei Monate nach dem knappen Brexit-Votum hat Großbritannien mit Theresa May eine neue Premierministerin, die niemand gewählt hat, und eine neue Regierung, die sich ebenfalls keiner Wahl stellen musste. Die Tories sind nach wie vor gespalten, niemand hat einen klaren Plan für den Rückzug aus dem vereinten Europa. Theresa May wiederholt unablässig „Brexit bedeutet Brexit“, aber niemand weiß zu sagen, was das heißen soll.

Es wäre die Stunde der Opposition, die Stunde der Labour-Party, die sich mehrheitlich gegen das Brexit-Abenteuer gestellt hat. Doch eine solche Opposition gibt es auf der Insel nicht mehr, seit sich Labour gleich nach dem Brexit-Votum Hals über Kopf in einen heftigen Streit um die Parteiführung gestürzt hat. Die Mehrzahl der Labour-Parlamentarier verweigerte Jeremy Corbyn als Parteichef mit 172 gegen 40 Stimmen das Vertrauen. Da der schwer Gescholtene seinerseits einen Rücktritt ablehnt, tobt seit Anfang Juli ein offener Kampf zwischen ihm und Herausforderer Owen Smith. Die Tories, selbst wochenlang gelähmt von Dissens und Intrigen, sehen höhnisch lächelnd zu, wie Labour sich zerfleischt. Da die stärkste Oppositionskraft ausfällt, hat die Schottische Nationalpartei (SNP), seit der Wahl vom Mai 2015 mit 50 Abgeordneten im Unterhaus präsent, beantragt, sie möge als offizielle Oppositionsführerin anerkannt werden, eine krasse Demütigung für Labour.

Bis zum 24. September, wenn das Ergebnis der Urwahl feststeht, wird Labour mit sich selbst beschäftigt bleiben. Dann dürfte auch erkennbar sein, ob sich die Spaltungstendenz abwehren lässt oder Unabwendbares ansteht. Dabei hat der offene Machtkampf um den künftigen Kurs dazu geführt, dass Labour wieder zur Massenpartei wurde mit weit über einer halben Million Mitgliedern. Wie bei Corbyns erster Wahl zum Parteivorsitzenden vor einem Jahr können sich auch diesmal Unterstützer der Partei als Wähler registrieren lassen und für ein Eintrittsgeld von 25 Pfund Sterling mit abstimmen. Das oberste Gremium der Partei, das National Executive Committee NEC, einem Parteivorstand vergleichbar, hat versucht, die Neumitglieder am Votum zu hindern, musste es sich aber gefallen lassen, dass ein Verwaltungsgericht zur großen Freude des Corbyn-Lagers den entsprechenden Vorstandsentscheid verwarf.

Integrer Überzeugungstäter

Es gibt kaum einen Zweifel, dass Corbyn Ende September erneut triumphiert. Gut 65 Prozent der 140.000 Neumitglieder, die der Partei seit Anfang 2016 zugeströmt sind, haben sich laut Umfragen für ihn erklärt. Die Mehrheit der etwa 388.000 Alt-Parteimitglieder, die schon vor dem 1. Januar 2016 eingeschrieben waren, neigt ebenfalls zu Corbyn, ebenso wie eine Majorität unter den 70.000 Gewerkschaftern, die über ihren jeweiligen Verband zur Labour Party zählen.

Während Corbyn durchs Land tourt und das tut, was er am besten kann, nämlich auf Meetings ihm wohlgesonnener Anhänger zu sprechen, wird der Ton zwischen beiden Lagern von Tag zu Tag schärfer. Owen Smith, kein Hinterbänkler, sondern ein Mann mit langjähriger Regierungs- und substanzieller Berufserfahrung jenseits des Unterhauses, ist kein bekennender Neoliberaler. Da aber der Corbyn-Effekt auf die gesamte Partei ausstrahlt, müssen sich Corbyn-Widersacher für ausgesprochen linke Projekte erwärmen, um überhaupt Gehör zu finden. Also reizt auch Smith seine eher sozialliberale Identität derzeit maximal aus.

Die Gegner Corbyns werfen ihm vor, unprofessionell zu agieren und als Führer einer traditionsstarken Partei, die stets viele Strömungen vereint habe, eine Fehlbesetzung zu sein. Sicher kein deplatziertes oder böswilliges Urteil. Auch wenn Corbyn ein integrer Charakter ist, der seine Überzeugungen wahrt – als gewiefter Oppositionsführer tritt er nicht in Erscheinung, sondern glänzt als Aktivist mit der Bindung an viele Protestszenen. Er beherrscht die Sprache linker Basisbewegungen und ist nach Habitus wie Intellekt ein Anti-Politiker, der jahrzehntelang im Unterhaus mit wenigen Mitstreitern eine Art Fundamentalopposition gegen die eigene Partei betrieben hat. Es fällt schwer, sich ihn als Regierungschef vorzustellen. Folgerichtig geriet sein Schattenkabinett zum Fiasko und flog nach dem Brexit-Referendum prompt auseinander.

Labours Demokratie

Vorstandsmacht Die Entstehung der Labour Party aus der Gewerkschaftsbewegung und sozialdemokratischen Föderationen Ende des 19. Jahrhunderts prägt bis heute deren basisdemokratischen Charakter und den Unterschied zu den Konservativen oder der Liberalen Partei. Bei diesen entscheidet letztlich der Parteichef über Programm und Personal des Kabinetts, sofern Regierungsverantwortung besteht; bei Labour sind dazu Vorstandsbeschlüsse nötig.

Vorsitzendenwahl Wird ein neuer Parteichef bestimmt, findet dieses Votum in einem virtuellen Electoral College statt, das aus drei Gruppen besteht: den Labour-Abgeordneten im Unterhaus und im EU-Parlament, den Parteimitgliedern in den Wahlkreis-organisationen und den Mitgliedern der Vorfeldorganisationen (socialist societies) wie der Gewerkschaften. Darüber hinaus können sich gegen Zahlung eines Mindestbeitrags von 25 Pfund Sympathisanten als „registrierte Unterstützer“ in die Wählerlisten der Labour Party eintragen lassen.

Urwahl 2015 Für die Wahl von Jeremy Corbyn am 12. 11. 2015 war das Votum der „Unterstützer“ von einigem Gewicht für das Ergebnis. Der neue Parteivorsitzende konnte sich bei dieser parteiinternen Abstimmung mit den Stimmen von etwa 251.500 Mitgliedern und Sympathisanten (59,5 Prozent) schon im ersten Wahlgang durchsetzen. Der Zweitplatzierte, Andrew Burnham, kam auf gut 80.500 Stimmen oder 19,0 Prozent. Lutz Herden

In der Parlamentsfraktion glaubt kaum jemand, dass Labour unter Corbyns Führung eine nationale Wahl gewinnt. Die landesweite Brexit-Kampagne wird ihm als erster großer Test als Parteiführer ausgelegt, die er nach Ansicht vieler Labour-Größen nicht bestanden hat. Sie lasten ihm an, dass noch Tage vor dem Referendum viele Labour-Anhänger nicht wussten, ob die Partei für oder gegen den Brexit war. Sie werfen ihm vor, zögerlich und lauwarm gegen die Lügen-Kampagnen der Brexiteers gekämpft und eine eher orthodox linke EU-Kritik über das nationale und Parteiinteresse gestellt zu haben. Angekreidet wird ihm der ungeschickte Appell an David Cameron, sofort nach dem Plebiszit den Austritt Großbritanniens nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags zu erklären. Schließlich wird Corbyn dafür gerügt, dass er und seine Umgebung erst Wochen nach der Brexit-Entscheidung begannen, die offensichtlich kopflose Politik der Tories frontal anzugehen. Warum, so die Corbyn-Kritiker, hat Labour nicht daraus Kapital schlagen können, dass die Konservativen mit ihrer Planlosigkeit jeden nationalen Führungsanspruch verwirkt haben?

Corbyns ziemlich sichere Wiederwahl sagt mehr über den Zustand einer alten sozialdemokratischen Partei als über die umstrittene Personalie selbst. Es ist klar, dass es gerade unter den jüngeren Briten, die mit Labour sympathisieren, wie unter den Älteren, die in Massen zur Partei zurückfinden, eine Sehnsucht nach starken Worten und Symbolen, nach prinzipienfester Programmatik und vertrauenswürdigen Personen gibt. Im Lager derer, die gewöhnlich Parteivolk genannt werden, hat der Neoliberalismus in seiner famosen britischen Spielart und damit das New-Labour-Projekt eines Tony Blair jeden Kredit verspielt. Diesen Umschwung, der die wieder wachsende Solidarität britischer Gewerkschafter mit der Labour-Party unter Corbyn erklärt, muss man zur Kenntnis nehmen. Es ist Unsinn, ihn dem Einfluss altlinker, trotzkistisch-leninistischer Agitatoren zuzuschreiben, wie das einige Gegner Corbyns versuchen. Linksradikales Sektierertum gab es in Großbritannien noch nie in relevanter Größenordnung.

Was Labour unter Jeremy Corbyn gefährlich zentrifugalen Kräften aussetzt, ergibt sich aus einem „Trilemma“, in das die Partei unwiderruflich geraten ist. Zunächst einmal stimmt die Repräsentation nicht mehr. Die große Mehrheit der Labour-Parlamentarier und -Honoratioren, die Corbyn loswerden wollen, vertritt nur noch eine Minderheit unter der Mitgliedschaft. Andererseits ist die Fraktion der Parteimitglieder, die Corbyn behalten wollen, in keiner Weise repräsentativ für die Mehrheit der Labour-Wähler, Sie wollen eine pragmatische linke Politik, die ihre dringendsten Probleme löst: Jobs, Mieten, Preise, Schulen, Gesundheitssystem. Diese Milieus wiederum – und das wäre Dilemma Nr. 3 – halten von einer Einwanderung Hilfsbedürftiger aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika nicht eben viel.

Die Tories stellen

Daher wird der Streit um Labours Seele nicht mit Corbyns Wiederwahl entschieden. Die Partei kann sich spalten – in einen linkssozialistischen und einen sozialdemokratischen Flügel. Auf jeden Fall haben die geschlagenen Labour-Abgeordneten wenig zu verlieren: Entweder werden sie von der Parteimitgliedschaft in ihren Wahlkreisen nicht wieder aufgestellt oder bei der nächsten Wahl von Tory-Kandidaten geschlagen. Es ist zu befürchten, dass die Partei – ob vereint oder zerrissen – bis auf weiteres nicht mehr als 30 Prozent der Stimmen erringen kann, wie eine YouGov-Umfrage zeigt. Angesichts dieses Trends wäre eine Spaltung selbstmörderisch, aller Bitternis des Machtkampfs zum Trotz.

Bleibt die eigentlich wichtige Frage, ob und wie rasch es Jeremy Corbyn gelingt, eine effektive Labour-Opposition gegen Theresa Mays Brexit-Politik zustande zu bringen. Wie geht Labour mit dem Brexit und dessen sozialen Folgen um? Mit Anti-EU-Rhetorik wird es nicht getan sein. Erst wenn die Parteiführung weiß, was Labour will und was nicht – zum Beispiel keine radikale Variante eines EU-Ausstiegs, von dem viele Brexiteers träumen –, kann die Partei die Tories stellen, im Parlament genauso wie auf der Straße.

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