Meet my bear

Kino Blumenkränze, Wiesentänze und Blutopfer: Ari Aster bringt uns den guten alten Kommunenhorror zurück
Ausgabe 39/2019

Man muss sich als Zuschauer gedulden, bis man in diesem Film zum ersten Mal Blut zu sehen bekommt. Schließlich will Midsommar ja auch keiner dieser gewöhnlichen Horrorfilme sein, in denen ein ums andere Mal amerikanische Teenager unters Messer geraten. Und wenn es in Midsommar dann doch so weit ist, erwischt es nicht die kleine Gruppe US-Studenten, die ihren Sommerurlaub in Skandinavien verbringt, sondern zwei alte Einheimische.

Das allerdings auf sehr spezielle Art: Die beiden Alten werden an einem Runenstein zum Aderlass gebeten. Danach wird buchstäblich zur Tat geschritten, das dem Ritual beiwohnende und entsprechend geschulte nordische Publikum ist begeistert. Nur die Ausländer sind schwer irritiert, aber das ist in diesem Film an unserer, des Zuschauers, statt auch ihre Hauptaufgabe.

Midsommar ist, wie anhand der obigen Beschreibungen vielleicht schon klar wird, ein ziemlich eigenartiger Film. Was aber weniger an seiner Handlung liegt, die so einfach gestrickt ist, dass sie aus jeder nächstbesten Drehbuchwerkstatt stammen könnte. Nach einem traumatischen Ereignis in ihrer Familie begleitet die Studentin Dani (Florence Pugh) ihren Freund Christian (Jack Reynour) und dessen Kumpelgruppe zu einer abgelegenen Kommune in Schweden, um den dortigen Feierlichkeiten anlässlich der Sommersonnenwende beizuwohnen. Eingeladen sind sie von Christians Freund Pelle (Vilhelm Blomgren), der in dieser Kommune aufgewachsen ist.

Die Begrüßung fällt allzu freundlich aus, während die Akklimatisierung umso schwieriger erscheint. Frauen, Männer und Kinder laufen in weißen, bestickten Leinengewändern über die grünen Wiesen, tragen seltsame Hüte und Blumenkränze, betreiben Ackerbau, sprechen den Ankömmlingen zuliebe Englisch und halten einen Bären in einem Käfig gefangen. Falls einem das bekannt vorkommt, ist es in diesem Fall nicht gut. Am Rand der Siedlung steht ein verbotener Tempel, eine gelb gestrichene Holzpyramide, von der man von Beginn an weiß, dass hier das finale Ungemach stattfinden wird. Das macht aber nichts, weil man in Midsommar ohnehin immer mindestens 20 Minuten im Vorhinein weiß, was als Nächstes passiert.

Ein strenges Weib

Midsommar, inszeniert von Hereditary-Regisseur Ari Aster, gehört filmisch zum Subgenre des Kommunenhorrors. Dazu zählen heute als Referenzfilme geltende Produktionen wie der britische The Wicker Man (1973) mit Christopher Lee und Britt Ekland; übrigens ein persönliches guilty pleasure von Schauspieler Nicolas Cage, der deshalb 2006 eine Neuverfilmung mit sich selbst in der Hauptrolle produzierte. Das Böse tritt in diesen Kommunenhorrorfilmen in Form einer sektenähnlichen Gemeinschaft auf, die sich von der modernen Zivilisation verabschiedet hat und ihr kollektives Seelenheil in okkulten Ritualen sucht. Fast immer gibt es eine Priesterin, weil die Verbindung von strenger Weiblichkeit und unerklärbarer Spiritualität vor allem für Männer eine besondere Gefahr darstellt. Dabei ist es wichtig, dass die potenziellen Opfer vor Ort natürlich alles falsch machen, der Kontakt zur Außenwelt – mittlerweile überwiegend digital mit Netzempfang konnotiert – abgeschnitten ist und die Fluchtrouten gesperrt sind. Früher waren solche Filme immer auch ein wenig Camp, gingen manchmal in Richtung Sexploitation und wurden im Laufe der Zeit aufgrund ihrer Skurrilität fallweise zu Kult. Klassiker wie The Stepford Wives (1975) und intelligente Filme wie Jordan Peeles Mysterythriller Get Out, in dem für einen jungen schwarzen Fotografen der Antrittsbesuch bei seinen weißen Schwiegereltern zum Albtraum gerät, scheuen vor Anleihen zu Recht nicht zurück. Midsommar, und das ist das eigentlich Interessante an dieser US-schwedischen Koproduktion, buchstabiert praktisch sämtliche vorgeprägten Bilder aus, braucht dafür entsprechend zweieinhalb Stunden – es gibt auch einen Director’s Cut mit knapp drei Stunden – und überführt somit das Subgenre endgültig in den Mainstream.

Es ist die Angst vor dem überwunden geglaubten vermeintlich Primitiven, auf die Filme wie Midsommar lustvoll anspielen. Vor dem archaischen Lächeln, das keine Offenheit bedeutet, sondern eine Einladung zur Rückkehr in eine Welt, in der noch einfachste Regeln gelten, die alles bestimmen. Sogar das Leben und den Tod. Das klingt für Zivilisationsgeschädigte und Traumatisierte verlockend und furchteinflößend zugleich. Hier bedeutet die Sehnsucht nach einer auf das Elementare reduzierten Existenz Askese und Wollust zugleich, so wie in ihr Schrecken und Verheißung gleichermaßen zum Ausdruck kommen.

Abfrage der Urängste

Die Wissenschaft als Mittel zur Aufklärung hat in diesem Kosmos natürlich ausgedient, denn sie ist das Werkzeug der Ungläubigen: Für Christian und seinen Freund Josh (William Jackson Harper), die anthropologisches Interesse bekunden, muss die Studienreise schon deshalb zum Horrortrip werden.

Zur Abfrage der Urängste des Menschen, nämlich jener vor sich selbst, wäre Midsommar gut geeignet. Den Wunsch nach Selbstbestimmung zur Selbstaufgabe, der von den Dörflern propagiert wird, kann gut verstehen, wer seinen Platz in dieser Welt verloren zu haben meint. Wer die Wunschfantasien einer bürgerlichen Existenz hinterfragt und stattdessen glaubt, sich buchstäblich in andere, befugtere Hände begeben zu können. Doch Aster schlägt alle Motive auf der Klaviatur gleich laut an, egal ob Trance oder Tanz, Ekstase oder Exzess, Inzest oder Inbrunst. Und das geht sich nicht mal in den längsten Sommernächten aus.

Info

Midsommar Ari Aster USA/Schweden 2019, 141 Minuten

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