Eigentlich soll sie gar nicht mitkommen. Doch Billi Wang (Rapperin Awkwafina) will es sich nicht nehmen lassen, ihre Großmutter in China zu besuchen, schließlich ist der Kontakt zwischen der jungen New Yorkerin und ihrer geliebten Nai Nai, wie sie von allen genannt wird, nie abgerissen, obwohl Billis Eltern vor vielen Jahren nach New York ausgewandert sind. Doch nun ist die Großmutter krank, der Lungenkrebs im Endstadium lässt ihr höchstens noch ein paar Monate Zeit.
Dass Billi nicht nach Changchun mitreisen soll, hat einen einfachen und zugleich ziemlich komplizierten Grund: Die Sterbenskranke soll nichts über ihren Zustand erfahren. Und Billi könnte, weil der emotionalen Last nicht gewachsen, das Geheimnis verraten.
Die dramatische Ausgangslage von The Fa
gslage von The Farewell klingt nach schwerer Kost. Selbstverständlich fließt in diesem Film auch die eine oder andere Träne. Tatsächlich aber hat die 36-jährige US-chinesische Filmemacherin Lulu Wang eine Tragikomödie über das Abschiednehmen inszeniert – und die im Kino als besonders schwierig geltende Herausforderung mit Bravour gemeistert. Mit zwei Golden-Globe-Nominierungen – als bester fremdsprachiger Film sowie für Awkwafina als beste Hauptdarstellerin – darf sich The Farewell jedenfalls berechtigte Oscar-Hoffnungen machen.Wer in diesem Film leidet und warum, wer seinen Gefühlen nachgeben darf und wer nicht, das bleibt in The Farewell immer in der Schwebe. So wie die auf Wangs eigener Familiengeschichte basierende Erzählung, in der die Figuren nie mit offenen Karten spielen und sich selten in die verdeckten blicken lassen. Das dem Film vorangestellte „based on an actual lie“ nimmt dieses Spiel der Doppelbödigkeiten schon vorweg. Denn die Frage, ob die Großmutter vor der eigenen Todesnachricht geschützt werden oder ob man ihr, wie Billi meint, nicht doch besser die Wahrheit zumuten sollte, wird von einer anderen überlagert: Ist der Besuch der Angehörigen im Grunde nicht ein eigennütziger? Welchen Sinn ergibt das Abschiednehmen, wenn sich diejenige, die gehen wird, gar nicht verabschieden kann?Ein Vögelchen des TodesDie Großfamilie, die sich bei der Großmutter einfindet – und geschlossen im Hotel übernachtet –, hat also ein gemeinsames Geheimnis, aber viele einzelne Interessen. Zunächst braucht es jedoch einen guten Grund für die kollektive Anwesenheit, weshalb der nach Japan ausgewanderte Cousin seine Hochzeitsfeier nach Changchun verlegen muss. Eine Heirat, die ebenfalls reiner Mittel zum Zweck sein könnte. Und immer wenn am Familientisch gemeinsam gegessen wird – und es wird sehr viel und oft gegessen in diesem Film –, stehen die einzunehmenden Rollen auf dem Prüfstand.Wang erzählt diesen Interessenausgleich innerhalb der Familie vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kulturen und davon, wie die vermeintlichen Vorzüge der einen als Nachteil der anderen gelten. Individualismus oder Gemeinschaft, persönliche Freiheit oder sinnstiftendes Gruppengefühl? Doch Wang hält, wie den Film selbst, auch diese Form der Auseinandersetzung in der Schwebe, bezieht nie eindeutig Position und bleibt eben deshalb allen Figuren und Generationen verbunden. Das aber ist kein Zeichen von Unentschlossenheit, sondern ein Wille zum Ausgleich. Wenn Billi am Ende – so viel sei verraten – nach New York in ihre Wohnung zurückkehrt, wirkt diese verlassen und heimelig zugleich, während die Häuserburgen in Changchun, zwischen denen sie vergeblich den Spielplatz ihrer Kindheit wähnt, trotz aller Kälte in ihr ein warmes Gefühl hervorrufen. Das hat natürlich mit Lulu Wangs eigener Biografie, ihrer Kindheit in China zu tun, ist aber auch Ausdruck dafür, dass das viel zitierte Brückenschlagen umso leichter fällt, je besser man die jeweils andere Welt kennt.Über die Symbolkraft, die der schrillen Erfolgskomödie Crazy Rich Asians als erster großer Hollywoodproduktion mit rein asiatischstämmigem Cast zugeschrieben wurde, geht The Farewell mit seinen realistischen Bezügen noch einen Schritt hinaus. Im Vergleich zum deutlich häufiger diskutierten Black Cinema haben die großen Studios hinsichtlich asiatischer Diversität jedenfalls einen noch größeren Aufholbedarf. Umso wichtiger ist es, dass mit The Farewell nun ein Film vorliegt, der nicht nur Diversität bedient, sondern die Frage nach kultureller Identität und Zugehörigkeit in einer subtilen Storyline verhandelt.Das ist vor allem dann bemerkbar, wenn das Geschehen scheinbar auf der Stelle tritt. Das wiederkehrende Bild eines Vogels auf dem Fensterbrett als möglicher Vorbote einer entweichenden Seele; ein Lüftungsschlitz im Hotelzimmer, an dem ein rotes Band widerspenstig gegen Metall schlägt; oder ein von Billi und ihrem Vater bei der Hochzeit im Duett angestimmtes Killing Me Softly. Es sind jene Momente, in denen das Unausgesprochene, das nicht nur als Geheimnis gegenüber der Großmutter Form hat, in der Stille konkret wird und sich gewissermaßen Gehör verschafft.Es würde im Leben nicht darum gehen, was man macht, sondern wie man es macht, erklärt Nai Nai ihrer Enkelin kurz vor dem Abschied. Das klingt weder nach chinesischer Lebensweisheit noch nach amerikanischem Lebensmotto. Vielleicht aber auch – und das ist wohl das Erfolgsgeheimnis dieses Films – ist es hier wie dort gültig.Placeholder infobox-1