Nur dieses kleine Stück Papier sei ihr noch geblieben vom einstigen Traum, den sie für ihren Sohn hatte, meint seine Mutter zu Ellis French. Mit einem Blumenstrauß in der Hand bittet der junge Mann durch den Türspalt um seine Geburtsurkunde. Denn das kleine Stück Papier bedeutet für ihn eine letzte Hoffnung – als Eintrittskarte zu den Marines. Er dürfe jedoch nur als der Sohn zurückkommen, den sie geboren habe, meint die Mutter, die mit French aufgrund seiner Homosexualität bereits vor vielen Jahren gebrochen hat. Ansonsten sei das Papier wertlos.
Schwarz und schwul zu sein ist allerdings nicht die beste aller Kombinationen für ein Bootcamp in South Carolina. Doch wie French später einem Offizier anvertraut, hätte ihn ansonst
hn ansonsten ohnehin die Straße umgebracht. Weshalb er zu Beginn von The Inspection in einer Obdachlosenunterkunft seine wenigen Habseligkeiten zusammenpackt und mit dem Stück Papier in der Hand dem Ruf derer folgt, die ihm bald ins Gesicht brüllen, das sie seinen Willen brechen wollen.The Inspection ist Elegance Brattons autobiografisch gefärbtes Spielfilmdebüt, das Jeremy Pope in der Hauptrolle eine Emmy-Nominierung einbrachte und in dem der heute 44-jährige Autor und Regisseur Bratton seine Erlebnisse als homosexueller Rekrut verarbeitet. Zehn Jahre verbrachte Bratton auf der Straße, ehe er sich den Marines andiente, bei denen er auch zum Fotografen ausgebildet wurde. Am Ende weist ein Bild, das ihn in Uniform zeigt, auf seinen eigenen Militärdienst von 2005 bis 2010 hin. Das auch nach seiner Entlassung offensichtlich schwierige Verhältnis zur Mutter, der er den Film gewidmet hat, wird indes nur angedeutet.Kaum ist French im Camp angekommen, gewährt The Inspection jedenfalls auch im Kinosaal kaum Verschnaufpausen: Gerafft auf eineinhalb Stunden Erzählzeit, reißt der Film einen unmittelbar mit ins Geschehen und zeigt das bekannte Prozedere der wochenlangen Ausbildung, den andauernden Drill als ermüdendes Ritual – das Lager wird bis zum Ende konsequent nicht mehr verlassen. Dass bereits üppig Bildmaterial zum Thema existiert – allen voran Stanley Kubricks Full Metal Jacket (1987) –, kommentiert Bratton anhand einer Szene explizit und dennoch beiläufig: Mit Ausnahme von Jarhead – Sam Mendes’ existenzialistischer Studie über den totalen Frust eines einfachen Soldaten im Irak-Krieg – seien die meisten Filme über Marines Bullshit, so der leitende Ausbilder mit Weihnachtsmütze, als sich die Soldaten zur Feier des Tages einen Kriegsfilm ansehen dürfen. Dass jedoch auch The Inspection aussieht wie die meisten Marines-Filme, ist indes Brattons Zugriff auf die üblichen Motive geschuldet: Großaufnahmen verzerrter Gesichter, schreiende Ausbilder, das Abscheren der Haare, Liegestütze zur Unterwerfung und das Absingen von Mama, Mama, Can’t You See beim Lauftraining.Der Korpsgeist macht auch vor schwulen Schwarzen Atheisten nicht HaltDoch The Inspection erzählt ohnehin keine ungewöhnliche Geschichte, sondern eine alltägliche: Wenn sie jeden Schwulen rauswerfen würden, so einer der Offiziere, zu dem French ein fragiles Vertrauen aufgebaut hat, dann gäbe es keine Army. Brattons Perspektive erweist sich in dieser Hinsicht als überraschend ambivalent: Frenchs erotische Fantasien, die ihm beim Gruppenduschen eine Erektion und in der Folge eine brutale Kopfwunde bescheren, machen seine Ausbildung zwar zur – inszenatorisch mit sparsamen Mitteln gestalteten – Tortur. Doch zugleich wird dieser Ort der Diskriminierung und Demütigung, an dem selbst der Schlafraum keinen Rückzug bietet, für French zu einem der Reinkarnation, an dem er Trotz und Stärke beweisen kann.Denn Bratton geht es nicht darum, die an diesem Ort ohnehin zu erwartende Homophobie anzuprangern und die Ausbilder als sadistische Schinder darzustellen, sondern er macht aus seinem Respekt vor der Institution kein Hehl. Die große Gleichmacherei wischt am Ende die Unterschiede hinfort, behauptet dieser Film, und so macht der Korpsgeist auch vor schwulen Schwarzen Atheisten, die wie ihre muslimischen Kameraden vom katholischen Gottesdienst befreit werden, nicht Halt. Das Auslöschen jedweder Individualität und die Dominanz militärischer Wertvorstellungen werden von Bratton zwar nicht ausdrücklich befürwortet, aber für einen jungen Mann wie Ellis French doch als Möglichkeiten für Empowerment betrachtet.An ebendiesem Punkt stößt The Inspection jedoch an seine Grenzen: Der militärische Drill funktioniert hier als Beweis für ein geglücktes Experiment, bei dem aus einem an den sozialen Rand gedrängten jungen Mann in wenigen Monaten ein selbstbewusster Staatsbürger und Patriot geformt wird. Wie es so weit kommen konnte, dafür interessiert sich Bratton nicht. Stattdessen macht er die Wurzel des Übels schlicht an der Homophobie der Mutter fest, die French als Jugendlichen auf die Straße gesetzt hat.Was The Inspection ebenfalls nicht zeigt, ist, wie einfach Menschen, die sich dem Militarismus unterwerfen, zu manipulieren sind. Oder was mit jenen geschieht, die im Gegensatz zu French nicht den nötigen Durchhaltewillen besitzen: Im Jahr 2021 nahmen sich laut US-Verteidigungsministerium 519 Soldatinnen und Soldaten das Leben. Um die Auswirkungen nach überstandenem Bootcamp und einem möglichen Einsatz – Depressionen, PTSB und Angstzustände – kümmert sich dann traditionell das Genre des Veteranenfilms.Dass sich The Inspection – wie jüngst auch das österreichische Drama Eismayer (2022) über einen schwulen Ausbilder, der sich in einen Rekruten verliebt – des Themas Homosexualität und Militär annimmt, mag mit einem veränderten gesellschaftlichen Bild von Männlichkeit zusammenhängen, das eine Heteronormativität auch an dieser Front zunehmend in Frage stellt. Für Elegance Bratton, der nach seinem Militärdienst unter anderem an der Columbia-Universität in New York African American Studies studierte, schließt diese neue Perspektive das Festhalten am alten amerikanischen Traum jedoch nicht aus.Eingebetteter Medieninhalt